Impressionswinkel

[21] 29|Sonntag

◊

Endlich fühlt sie sich kräftig genug, um die Planung anzugehen. Phasenweise war es schon in eine sehr weite, tiefe Ecke in ihrem Gehirn abgelegt. Aber nun stürzt sie sich voller Freude an die Planung ihres Geschenkes für Al. Vor allem hat sie gerade sowohl die Zeit als auch die nötige Energie dazu. Al bereitet gerade alles für ihren Freundes-Sonntag vor.

Alice hatte zwar bereits im September Geburtstag und sie ihr auch das Geschenk überreicht, aber der zweite Teil dessen steht noch aus. Wie Alice sich gefreut hat ... Wunderschön. Am liebsten wäre sie ewig mit ihren Fingern im Gesicht von Al hängen geblieben, um gänzlich ihre Mimik aufzufangen. Dazu die Freudenklänge ... Das hat auch sie in einen Freudenrausch katapultiert.

Da Alice noch nie in den Urlaub gefahren ist, wollte sie ihr das unbedingt ermöglichen. Doch auch sie war noch nicht viel außerhalb ihrer Stadt unterwegs. Um Alice einen schönen Urlaub bescheren zu können, ohne Sorgen und Kummer und auch ohne jegliche Bedenken, wo es unbeschwert für eine Nicht-Sehende sein könnte, wählte sie Belgien. Eine Stadt in Belgien, die sie selbst nur einmal durchquerte, aber noch nicht erkundet hat. Doch an diesem einen Tag hat sie merken dürfen, dass es Länder beziehungsweise Städte gibt, die auf Nicht-Sehende eingehen. An den Ampeln für zu Fußgehende sind sogar Kennzeichnungen – vielmehr Erhebungen – angebracht, die einen darauf aufmerksam machen, wie breit die Straßen sind, aus wie vielen Spuren sie auf den jeweiligen Seiten bestehen. Das hat sie beeindruckt. In den öffentlichen Verkehrsmitteln hat sie zudem tatsächlich auch nur gute Erfahrungen gemacht. Sogar im Umgang mit den anderen – sehenden – Menschen. Es kann Glück gewesen sein, aber nein, irgendetwas sagt mir, dass es dort harmonischer ist. Dass es dort anders ist. Zumindest in dieser Stadt. Ein Miteinander. Ähnlich wie hier mit Alice, Joe und Elmar. Als sie über ein passendes Geschenk für Al nachgedacht hat, kam ihr das ziemlich schnell in den Sinn. Sie möchte es Al unbedingt ermöglichen und freut sich selbst sehr darüber, diese Stadt erkunden zu dürfen.

Ronja muss bei der Erinnerung an Als Geburtstag wieder schmunzeln. Das Geschenk bestand aus einer Karte mit einem geschriebenen Text.

Meine liebste Al,
Mit diesem Geschenk möchte ich dir etwas zurückgeben. Dafür, dass du an meiner Seite bist. Natürlich kann ich daran nicht ansatzweise kommen. Doch ich hoffe, du freust dich darüber. Also pass gut auf, vielleicht errätst du es dann. *Lachsmiley*
1) Ich möchte dich entführen,
... aber natürlich nicht auf die kriminelle Weise.
... aber auch nicht nur ins Bett (obwohl ich dagegen sicherlich nichts haben werde).
2) Zu einem Ort, der nicht hier ist. Und auch nicht nur eine Haltestelle weiter. Und doch „nebenan".
3) Denk an Biere, auch wenn wir sie nicht trinken werden. Alternativ kannst du auch an Waffeln denken, die wir genüsslich verzehren können.
4) Sowohl Land als auch Hauptstadt fangen mit dem Buchstaben „B" an. Nun weißt du vielleicht, wohin es ungefähr geht?
5) Aber in welche Stadt soll es gehen?
Einmal erzählte ich dir, dass ich durch eine sehr schöne – so denke ich es mir – Stadt gefahren bin. In diese soll es gehen, denn mit dir – und mit niemand anderem – möchte ich sie erkunden.
Auf der Rückseite steht die Stadt und alles Weitere, meine Al. Diesen Urlaub möchte ich dir schenken. Alles Liebe zu deinem Geburtstag! Ich liebe dich. Deine Ronnie

Bei Punkt eins musste Al schon lachen. Alice war sehr aufgeregt, weil sie da noch gar nicht wusste, was kommen mag. Als sie sich wieder beruhigt hatte, hat sie – laut – weitergelesen und mitten in Punkt zwei gestockt. Mit jeder weiteren Zeile wurde ihre Stimme leiser und brüchiger. Ronja spürte, wie sie den Tränen nahekam. Sie hoffte, dass es aus Freude wäre. Ronja selbst war auch sehr aufgeregt. Nach dem Alice Punkt drei zu Ende gelesen hat, hauchte sie ehrfürchtig „Bel", brach aber ab, weil sie sich wohl nicht traute. Ronja ließ sie, innerlich grinste sie, da Alice es verstanden hat und sich hoffentlich freute. Als Alice mit Punkt vier fertig war, sprach sie „Belgien" aus. Da Ronja zustimmte, wiederholte Al es mehrmals, was immer lauter wurde, so als würde es bei ihr durchdringen. Bei Ronja fiel die Anspannung ab und die Erleichterung machte sich breit. Ihre schwitzigen Hände wischte sie an ihrer Hose ab. Sogar an die Stadt Gent konnte sich Alice erinnern.

Auf der Rückseite stand, dass es nach Gent gehen wird, Alice die Jahreszeit bestimmen kann und Ronja die Planung sowie Kosten übernehmen wird. Letzteres wollte Alice verhandeln, aber da ließ Ronja nicht mit sich reden. Es ist ihr Geschenk. „Du darfst mir dann gerne eine Waffel vor Ort ausgeben oder auch zwei ... Vielleicht mit Sahne und Erdbeeren, hm?", hatte sie lachend erwidert.

Im Frühjahr wollen sie nach Gent fahren und sie möchte schon mal nach guten Unterkunftsmöglichkeiten recherchieren und nach der besten Anreisemöglichkeit.

◦◦◦◦◦◦

Kurz vor zwölf – also knapp bevor die anderen der Bande kommen – gelangt auch Ronja wieder zur Tür hinein, von einer kurzen Runde mit Woody. Es geht ihr schon etwas besser, ihr Gefühl stabilisiert sich. Vielleicht war es wieder so eine Ein-Mal-Sache mit Tim. Er halt ...

Sie schlüpft gerade in ihre Pantoffeln, da klingelt es bereits, weshalb sie sich wieder zur Tür umdreht, den Hörer zur Gegensprechanlage in die Hand nimmt und fragt, wer da ist. Es sind Joe und Elmar, beide gemeinsam.

„Hey ihr beiden", begrüßt sie sie, als sie vor ihrer Tür ankommen und nimmt Joe in den Arm, während Elmar bereits eingetreten ist, um sein Ritual zu vollführen. Alice kommt zu ihnen, um auch beiden Hallo zu sagen. Zu dritt gehen sie ins Innere der Wohnung. Elmar kommt kurz danach zu ihnen.

„Wer möchte was zum Trinken?"

„Wie immer."

„Ja, bei mir auch", schließt sich Elmar Joe an.

„Und dich muss ich ja nicht fragen, oder Ronnie?"

„Nein, aber ich glaube, die anderen eigentlich auch nicht", amüsiert sich Ronja.

„Ha ha ha."

Ronja folgt Alice in die Küche, fragt aber die beiden Männer, ob sie ein Auge auf Nika haben, die im Wohnzimmer auf dem Boden sitzt oder bereits wieder herumturnt. Als sie das bejahen, geht sie zu Alice, um ihr zu helfen.

„So, da sind wir wieder. Weil wir ziemlich platt sind von all den Feiertagen und na ja, dem anderen Zeugs ... wollten wir fragen, ob ihr Mensch ärger dich nicht spielen mögt?"

◦◦◦◦◦◦

„Das war eine gute Idee, hat Spaß gemacht."

„Das sagst du doch nur, weil du gewonnen hast", entgegnet Ronja Joe.

„Mach dir nichts draus, Joe", beschwichtigt Al ihn. „Sie gewinnt sonst meistens, zumindest behauptet sie das gerne", stichelt Alice weiter.

„Mir hat es auch echt Spaß gemacht."

„Das freut mich Elmar", antwortet Ronja. „Und zu dir, Al." Sie hebt den Zeigefinger, lächelt aber dabei. „Es sind nicht nur Behauptungen."

„Ach Ronnie ..." Alice nimmt sie seitlich in den Arm und tickt ihr dann mit dem Finger gegen die Stirn, woraufhin alle lachen müssen.

Kurz darauf verabschieden sie sich an der Tür. Bis auf Joe und Ronja, da sie noch einmal mit Woody rausgeht und Joe die paar Meter bis zum Laden begleitet.

„Im neuen Jahr machen wir dann den Malkurs zusammen, den ich dir geschenkt habe?", fragt Joe nach, als sie sich auch verabschieden.

„Ja. Auf jeden Fall!" Irgendwann im neuen Jahr werde ich dafür einen Kopf haben.

◊