[24] 1|Mittwoch

28 8 44
                                        

Nun ist das neue Jahr – 2025 – wirklich angebrochen. Ein Jahr, in das sie viele Hoffnungen steckt. Hoffnungen in Entscheidungen, die gefällt werden, worauf sie keinen Einfluss mehr ausüben kann. Sie muss hoffen und zuversichtlich bleiben. Bei all den Feiertagen beziehungsweise dadurch konnte sie sich gut ablenken, doch nun kommen die Sorgen wieder zum Vorschein. Darunter auch das letzte Aufeinandertreffen mit Tim. Was wollte er nur damit bezwecken? Schießt er sich nicht mit alldem ein Eigentor? Oder rafft sie selbst irgendetwas nicht?

Sie versucht dem Gedankenstrudel wieder einen Riegel vorzuschieben. Heute ist ein viel zu bedeutender Tag für diesen Mist. Es ist Nikas Geburtstag. Ihr erster. Und diesen verbringen sie teils natürlich bei sich zu Hause, aber zum anderen Teil im Le Petit, was Michel extra für sie – und nur für sie öffnet. Sie wollten ihn natürlich dabei haben, weil er ihre Kleine so vergöttert und weil er einen bedeutenden Anteil in ihrem Leben eingenommen hat. Für Alice war er immer wichtig und auch für Ronja wurde er ein wertvoller Begleiter.

Auch wenn sich ihre Wege nach der Silvesterparty recht früh trennten – so gegen 00:30 Uhr –, haben sie vorsorglich vereinbart, sich heute erst nachmittags im Le Petit zu treffen. Joe kommt das zu Gute, da er dann seine verkürzten Öffnungszeiten sowohl gestern als auch heute gleich halten kann. Ronja und Alice kommt es auch gelegen, weil sie den Tag ruhig angehen können und sich keinen frühen Wecker stellen mussten. Letzteres ist meist sowieso nicht notwendig, da die Kleine sie schon irgendwann wecken wird. Geschenke, das haben sie ihnen allen gesagt, sind wirklich nicht notwendig. Kleidung und Spielzeug haben sie und Michel kommt immer wieder mit etwas Neuem zwischendurch an. Sie haben mehr als genug. Doch wenn sie der Nikamaus unbedingt etwas schenken wollen, können sie gerne einem sozialen Verein, der sich mit den Themen Adoption in homosexueller Partnerschaft beschäftigt und sich dafür einsetzt, Geld spenden. Das zumindest haben sie als Alternative vorgeschlagen.

◦◦◦◦◦◦

Nur ein bisschen länger als sonst sind sie wach gewesen – natürlich haben sie keinen Alkohol getrunken – und dennoch fühlt sie sich nun wie verkatert. Wirklich nicht mehr die Jüngste. Schleichend steigt sie aus der Dusche, zieht sich ihre frische Klamotten drüber und schlürft aus dem Badezimmer raus. Dass Al sich im Schlafzimmer aufhält, hört sie am Rascheln der Seitenblätter auf dem Boden. Sie bastelt etwas oder schreibt, denkt sich Ronja.

„Ich gehe dann jetzt eine Runde mit Woody. Bei dir alles okay?"

„Ja klar. Bin nur etwas kaputt."

„Geht mir nicht anders", antwortet sie und muss lachen. „Wir werden alt, Al."

„Sag das nicht."

„Warum? Ist doch so oder nicht?"

„Ja, aber das klingt schon etwas übertrieben oder nicht?" Alice müht sich ab, aufzustehen.

„Ist, wie es ist." Ronja zuckt mit den Schultern und grinst sie an.

„Du bist schon wieder so eine Spinnerin."

„Eine Spinnerin, die du deswegen liebst?"

„Das auf jeden Fall. Und jetzt husch", sagt Alice zu ihr und gibt ihr einen leichten Klaps auf den Hintern.

Ronja antwortet mit einem Luftkuss und einem Augenzwinkern.

◦◦◦◦◦◦

Ob er es weiß, wann sie Geburtstag hat? Ob er es vor Kurzem war, der bei ihr dieses unangenehme Gefühl ausgelöst hat? Mehrmals sogar ... Und dann dachte sie, es läge an Ella, weil sie an dem einen Tag da war. Im Le Petit. Was, wenn es nicht an ihr gelegen hat? Was, wenn es Zufall ist? Was, wenn ER auch hier irgendwo herumschwirrt? Kann er es ahnen, dass sie beide gerade auf dem Weg zu Michel sind? Was, wenn er weiß, dass Nika heute Geburtstag hat? Und was, wenn er deswegen heute auch dort hinkommt? Was, wenn ...

„Ronnie? Ronnie!"

„Hm?"

„Mensch. Bitte. Konzentrier dich. Woody steht schon einige Sekunden vor dir. Du läufst die ganze Zeit in ihn rein", brüllt Alice ihr entgegen, was sie sehr verwirrt. Nika fängt an zu quengeln. Was ist nur los?

„Was ist denn los?", stellt sie daher fast die gleiche Frage.

„Ja, das würde ich auch gerne wissen."

„Wo sind wir hier gerade?" Ronja dreht sich um, kann aber an den Umgebungsgeräuschen nichts festmachen, wo genau sie sich auf dem Weg zum Hafen befinden.

„Wir sind früh dran. Wenn wir noch die paar Meter schaffen, sind wir gleich am Hafen und können vielleicht kurz reden, bevor Elmar zu uns stößt. Schaffst du das?"

Ronja nickt. Sie atmet tief durch und versucht all ihre Kräfte zu mobilisieren, um sich zu konzentrieren.

Dass Alice sie so arg angepflaumt hat, geht ihr näher, als sie dachte, obwohl sie es verstehen kann. Eben konnte sie dennoch auch wieder Besorgnis heraushören, was ihr gar nicht gefällt. Sie muss sich am Riemen reißen. Sie schafft das, sie ist kein Nichtsnutz. Sie packt das!

„Es tut mir leid, Al!", prescht sie gleich hervor, als sie sitzen.

„Mir tut es leid, dass ich so laut geworden bin. Was ist denn nur los?"

Ronja erzählt ihr, was ihr durch den Kopf ging und dass sie es irgendwie verpasst hat, die Reißleine zu ziehen. Auch, dass sie sich bereits über eine Gruppe Gedanken gemacht hat, in der sie sich austauschen kann und eventuell noch einmal Achtsamkeitstraining nehmen möchte, erzählt sie.

„Das klingt gut", erwidert Al zu den letzteren Dingen. „Lass uns weitergehen und heute hältst du dich einfach etwas zurück. Das ist okay. So wie du das auch mal mir beigebracht hast, in Ordnung?"

„In Ordnung", gibt Ronja zerknirscht zurück.

„Na los, du Muffel. Elmar kommt auch gerade auf uns zu."

◦◦◦◦◦◦

Seitdem sie sich das von der Seele reden konnte, fühlt sie sich schon etwas leichter. Dass sie sich in der Umgebung ihrer liebsten Mitmenschen aufhält, tut sein Übriges. Auch wenn der Weg vom Hafen zum Le Petit noch anstrengend war, so kann sich jetzt mit jedem Augenblick etwas mehr entspannen. Es ist eine geschlossene Veranstaltung, also kann ER gar nicht hier eindringen.

Alice übernimmt die meisten Gespräche, wofür sie wirklich dankbar ist. Joe hat sich, nachdem er den Rest der Bande begrüßt hat, zu ihr gesetzt und sofort gespürt, dass sein Sonnenschein bedrückt ist.

„Möchtest du reden? Soll ich dich entführen?", witzelt er.

„Schon okay, aber danke."

„Dann lasse ich dir wenigstens mal einen neuen Café bringen." Da muss auch Ronja kurz auflachen.

Michel hat extra einen Käsekuchen organisiert, den sie alle sehr gerne essen. Allen voran Elmar, der bei der Info freudig aufquieken muss. Nachdem sie Kuchen gegessen haben, klopft Michel auf den Tisch.

„Ihr wolltet, dass wir – und ich nehme mal an, vor allem ich – uns zurückhalten bezüglich Geschenke." Michel räuspert sich kurz. „Tatsächlich bin ich eurer Bitte nachgekommen, aber für die nächsten dreihundertfünfundsechzig Tage kann ich keine Garantie geben." Alle stimmen ins Lachen von Michel mit ein. „Dazu hattet ihr, wie ich finde, eine fabelhafte Idee, die wir natürlich umsetzen wollten. Mit wir meine ich Elmar, Joe und mich. Also haben wir einen gewissen Betrag an den sozialen Verband, der sich für die Rechte von homosexuellen Paaren – mitunter auch dem Themenbereich Adoptionen – einsetzt, gespendet. Die Spendenurkunde wollen wir euch als Geschenk überreichen."

„Oh wow. Das ist echt super. Danke dir, Michel!", bewundert Alice das Geschenk. Ronja empfindet ebenso und schließt sich ihr an.

ImpressionswinkelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt