Kapitel 22

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Müde streiche ich mir durch die Haare und drücke sie dann wieder platt. Ich muss dringend Haare waschen. Das Atelier ist hell erleuchtet, doch draußen, auf der anderen Seite der großen Fenster, herrscht Dunkelheit. Es ist kurz vor Mitternacht und ich arbeite seit über achtzehn Stunden an meiner Kollektion. Die ersten Stücke sind endlich komplett fertig. Doch das Mainpiece meiner Show habe ich noch nicht einmal angefangen. Das bereitet mir echt Kopfzerbrechen. Denn unsere Abschlussarbeiten müssen in acht Wochen fertig sein. Der große Termin steht. Meine Models habe ich, dank Carl, beisammen. Die Resonanz auf meine Anfrage war groß und wir haben gemeinsam die Auswahl getroffen. Wir haben ein paar bekannte Gesichter aus der Szene dabei, aber auch vollkommene Newcomer. Ich starre auf den ordentlichen Haufen an weißem Stoff, der auf dem Stuhl neben mir liegt. Ich traue mich nicht so richtig daran. Doch irgendwann muss ich anfangen. Aktuell gehe ich von knapp einhundert Arbeitsstunden aus, die ich für mein Mainpiece brauche. Leider habe ich mich bei allen anderen Kleidungsstücken bis jetzt immer verkalkuliert und ich habe weitaus länger gebraucht als gedacht. Ich muss echt damit anfangen. Das nächste Problem ist die Tatsache, dass mir das Model dafür fehlt. Ich weiß genau,  dass ich Justin dafür haben will, aber ich konnte ihn bisher nicht dazu überreden. Wir hatten letzte Woche erst eine heftige Diskussion darüber. Am Ende waren wir beide wütend und haben uns Dinge an den Kopf geworfen, die nicht nett waren. Seitdem herrscht Funkstille zwischen uns. Ich weiß, dass es nicht fair von mir war, ihn als Angsthasen zu bezeichnen und dass er nicht einmal die Eier in der Hose hat seiner Schwester die Wahrheit zu sagen. Doch das, was er alles gesagt hat, war auch nicht gerade nett und ich kann mit niemandem darüber reden. Justine weiß nichts vom eigentlichen Beruf ihres Bruders, Max genauso wenig und bei Matt brauche ich mit Justin gar nicht erst anfangen. Für ihn ist er ein absolut rotes Tuch. Es ist jetzt nicht so, dass er direkt an die Decke geht, aber die Gespräche, in denen Justin der Stein des Anstoßes war, waren nie sehr angenehm und ich will einfach einer Diskussion mit meinem Freund aus dem Weg gehen. Immerhin ist er aktuell mein absoluter Ruhepol. Er holt mich wieder runter, wenn ich gefrustet und voller Panik bin. Ich habe keine Ahnung, wie er so ruhig bleiben kann. Er muss seine Abschlussarbeit selber auch bald abgeben und sie ist bei Weitem noch nicht fertig. Erst gestern hat er mir verraten, dass er noch einmal komplett von vorne angefangen hat. Ich hätte den Mut nicht. Klar, er hat seine alte Arbeit noch in petto. Er meinte, sie würde ausreichen um zu bestehen. Aber ihm ist halt eine bessere Idee gekommen. Leider weiß ich nicht, wie diese aussieht, denn er verrät mir absolut nichts. Ich musste ihm hoch und heilig versprechen, dass ich sie mir erst am Tag der Präsentation ansehe.

Hinter mir fällt etwas laut zu Boden. Ich drehe mich um und sehe eine meiner Kommilitoninnen, wie sie eine umgefallene Schneiderpuppe aufhebt. Sie sieht genauso müde und fertig aus wie ich mich fühle. Du siehst, ich bin nicht einzige Verrückte, die zu dieser gottlosen Zeit im Atelier hockt und arbeitet. Wir sind alle sehr nervös und angespannt.

»Shannon? Kannst du mir mal bitte helfen?« Derek erscheint an meinem Tisch. Die pure Verzweiflung und Ratlosigkeit steht in seinem Blick geschrieben.

»Klar.« Ich stehe auf und folge ihm zu seinem eigenen Arbeitsplatz.

Ich bin nervös. Also nicht nur ein bisschen aufgeregt oder so. Nein, mein Herz schlägt schnell, meine Hände sind nass vor Schweiß und zittern. Immer wieder atme ich tief durch, um mich etwas zu beruhigen. Allerdings bringt es mir rein gar nichts.

»Hier, dein Kakao. Warum heute kein Kaffee?« Justin reicht mir den Becher. Wir haben uns draußen getroffen, um die Sonne zu genießen. In den letzten Wochen war es oft grau, nass und teilweise stürmisch. Da tut die Sonne jetzt richtig gut.

»Ich...bin schon nervös genug.«

»Warum wolltest du mich so dringend sprechen?« Er nippt an seinem eigenen Becher. Ich deute mit dem Kopf auf eine freie Bank. Wir setzen uns und ich stelle den Kakao neben mir ab. Aus meiner Tasche ziehe ich den Entwurf für mein Hauptstück. Kommentarlos reiche ich es Justin.

Best Friend, or more?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt