Made it

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Julian

"I don't care how complicated this gets, I still want you."
- unknown

November 2022

Hätte mir jemand vor ein paar Monaten gesagt, dass ich jetzt vor der Nationalmannschaft stehen und mich, und vor allem Kai, vor ihnen outen würde, hätte ich denjenigen wohl für absolut gestört gehalten. Ich hätte demjenigen vermutlich nicht mal geglaubt, dass ich wieder mit Kai zusammen wäre. Und doch ist es wahr, ich stehe tatsächlich hier neben meinem Freund vor unserem gesamten Team. Alle sind sie in dem großen Besprechungsraum versammelt und momentan noch in ihre eigenen Gespräche vertieft. Ich bin schon ziemlich aufgeregt, wenn ich ehrlich bin. Ich fasse es noch gar nicht richtig, dass wir das machen und die Idee dazu von Kai kam.
Wer hätte das schon für möglich gehalten? Ich sicher nicht.
„Alle mal herhören, Jungs! Die beiden haben euch was zu sagen. Kai, Julian, das Wort gehört euch", meint der Bundestrainer und macht eine ausschweifende Handbewegung. Ich versuche zu lächeln und schlucke schwer, bevor ich Kai einen fragenden Blick zuwerfe. Er streicht sich die Haare glatt und fährt sich zittrig durchs Gesicht. Seine Hand zittert so stark, dass ich fast Angst bekomme, er könnte jeden Moment wegrennen und die ganze Sache hier abblasen. Er räuspert sich und holt tief Luft, bevor er mir zunickt.
„W-wir... also Jule und ich...", stammelt er und bricht schließlich ab. Timo versucht ihn ermutigend anzulächeln und Karim nickt ihm kaum merklich zu. Er presst die Lippen aufeinander und schüttelt den Kopf. Er sieht hilflos zu mir rüber und ich stelle mich noch näher neben ihn.
„Wir schaffen das", wispere ich ihm zu und er strafft die Schultern. Entschlossen greift er nach meiner Hand und wendet sich wieder dem Team zu.
„Ich bin schwul-"
„Sag uns was neues!", ruft Thomas lachend. Für ihn ist das nur ein Witz, aber Kai wird dadurch so sehr verunsichert, dass er meine Hand loslässt und sich abwendet.
„Halt die Klappe, Thomas", knurrt Timo, bevor ich überhaupt den Mund aufmachen kann.
„Warte, war das sein Ernst?", fragt der ältere Bayernspieler perplex.
„Oh man, tut mir leid. Das ist jetzt unangenehm", fügt er hinzu. Ich lege den Arm um den größeren neben mir und drehe ihn wieder zur Mannschaft.
„Jetzt lass die beiden doch erstmal erzählen", stöhnt Manuel genervt.
„Danke Manu", lächle ich und streiche ermutigend über Kais Rücken, bevor ich meine Hand von ihm zurückziehe. Zittrig atmet er ein und greift wieder nach meiner Hand. Er verschränkt unsere Finger miteinander und ich drücke seine Hand kurz, um ihn zu zeigen, dass er nicht allein ist. Aber er muss das hier selbst tun.
„Jule und ich sind ein Paar. Wir wollten es euch gerne sagen, damit wir uns hier etwas freier fühlen. An die Öffentlichkeit soll davon aber nichts... Äh ja und das war's, danke?", erklärt er überraschend entschlossen.
„Und jeder der damit ein Problem hat, kann sehr gerne zu mir kommen", meint Hansi, wofür ich ihm mehr als dankbar bin.
„Oder zu mir", ruft Timo.
„Und zu mir", fügt Karim noch hinzu. Der Rest der Mannschaft starrt uns einfach nur an.
„Danke, dass ihr uns so vertraut. Wir werden das auf jeden Fall für uns behalten. Oder Männer?", sagt Manu im Namen der Mannschaft und erntet größtenteils Zuspruch. Ein paar der Jungs sagen auch gar nichts. Vielleicht sind sie auch noch zu überrascht von Kais Enthüllung. Zumindest hoffe ich das.
„Ihr habt auf jeden Fall unsere volle Unterstützung", versichert Thomas noch immer etwas schuldbewusst. Timo wirft ihm noch einen bösen Blick zu, bevor er mir und Kai seinen gehobenen Daumen zeigt.
„Bravertz ist einfach real, man", ruft Leroy und wirft die Hände hoch, was die andern in Gelächter ausbrechen lässt.
„Klasse Leroy, was bist du nur für ein Blitzmerker", zieht Joshua ihn auf und die andern lachen wieder.
„Alles klar, dann setzt euch mal zu den andern und dann können wir starten", meint Hansi und legt uns beiden eine Hand auf die Schulter. Kai zuckt zusammen und sieht Hansi mit großen verschreckten Augen an. Den Blick habe ich schon mal bei ihm gesehen und da hat er die Stimme seines Vaters in seinem Kopf gehört.
„Kann ich einen Moment mit Kai haben?", frage ich und Hansi nickt sofort. Vorsichtig drücke ich Kais Hand und ziehe ihn sanft, aber bestimmt vor die Tür. Er hat immer noch diesen Ausdruck in den Augen, als ich meine Hände an seine Wangen lege. Meine Augen suchen seinen Blick und ich lege meine Stirn an seine.
„Alles gut, Havy. Es ist alles gut", versuche ich ihn leise zu beruhigen. Er legt seine Hand in meinen Nacken und küsst mich mit purer Verzweiflung. Zärtlich erwidere ich seinen Kuss, im Versuch ihn damit etwas aufzufangen. Der größere löst sich von mir und sieht mich immer noch etwas verstört an.
„Das lief doch ganz in Ordnung, oder Kurzer?" Er schmunzelt und nickt langsam.
„Bis auf Thomas Müllers Kommentar, aber das meint der nicht so. Der hält sich nur für witzig", brummt Kai. Ein schnaubendes Lachen entkommt mir.
„Für ganz besonders witzig sogar." Er lächelt und für einen Moment sehen wir uns nur an. Auch wenn er jetzt wieder entspannter wirkt, mache ich mir doch Sorgen um Havy.
„Hast du ihn wieder gehört?", frage ich wieder ernster. Der braunhaarige seufzt und weicht meinem Blick aus. Langsam nickt er und schluckt schwer.
„Glaubst du ich werde verrückt, Jule?", fragt er und sieht mich wieder so verstört an. Ich greife nach seinen Händen und ziehe ihn dann in eine feste Umarmung.
„Natürlich nicht, Baby. Du hast vielleicht ein Trauma, aber das ist nichts, was wir nicht zusammen bewältigen könnten. Oder du sprichst mal mit jemand professionellem, wenn du willst. Es kann bestimmt nur helfen." Der jüngere drückt mich fest an sich und küsst meine Wange.
„Danke Jule." Ich löse mich von ihm und bin froh, dass er schon wieder sehr viel entspannter aussieht. Mit meinem Kopf nicke ich Richtung Tür.
„Wollen wir wieder?", frage ich ihn zögernd.
„Aber klar doch. Wer würde sich denn nicht gern sein eigenes Versagen auf einer großen Leinwand ansehen?", brummt der größere. Belustigt stoße ich ihn mit meiner Schulter an.
„Was eine Einstellung, Havertz." Er verdreht nur die Augen und legt mir den Arm um die Schulter, bevor er mich wieder mit sich in den Besprechungsraum zieht.

Nach anderthalb Stunden entlässt Hansi uns in unsere freie Zeit, die ich definitiv allein mit meinem Freund verbringen werde. Das haben wir uns wohl beide verdient nach dem Outing vor der Mannschaft.
„Leute, ich echt bin so geisteskrank stolz auf euch!", jubelt Timo und fällt uns um den Hals, als wir gerade von unseren Plätzen aufgestanden sind. Kai grinst nur breit und klopft dem kleineren auf den Rücken.
„Danke Timo", lacht der braunhaarige glücklich.
„Aber es war jetzt auch nichts so krasses", spielt er es direkt danach wieder runter.
„Jetzt ehrlich, Kai. Ich bin so stolz, so unfassbar stolz auf euch beide", meint er nochmal und lässt uns schließlich los.
„Wag es nicht das kleiner zu machen als es ist." Ergeben nickt mein Freund und hebt in Akzeptanz seine Hände.
Karim und Schlotti kommen als nächstes zu uns. Die beiden grinsen so breit, dass es ansteckend ist.
„Glückwunsch Leute, zum Outing und zur Beziehung und so", meint Nico der ein paar unserer Streits selbst mitbekommen haben muss. Wahrscheinlich ordnet er sie jetzt nochmal anders ein. Ich schlage mit ihm ein und Kai nickt ihm dankbar zu.
„Habt ihr echt gut gemacht, Leute", lobt auch Karim uns. Auch mit ihm schlagen wir ein und bedanken uns lächelnd. Allein das, gibt mir ein besseres Gefühl. Wir sind nicht mehr allein. Wir haben jetzt Menschen, die hinter uns stehen und ich hoffe, dass auch Kai das spürt.
Auch die Bayernspieler kommen gesammelt auf uns zu und versichern uns ebenfalls ihre volle Unterstützung. Ein paar andere werfen uns noch ein freundliches Lächeln zu wieder anderen scheint es komplett egal zu sein. Ich habe es mir wirklich schlimmer vorgestellt. Ich hoffe Kai ist auch glücklich mit der Situation. Aber wir haben sicherlich noch genug Zeit darüber zu sprechen. Wenn wir mal aus diesem Raum kommen würden, zumindest.
„Julian Brandt!"
Och ne! Ich komme hier wohl nie wieder raus.Marco tritt kopfschüttelnd vor uns und ich verziehe schon das Gesicht. Ich kann mir gut vorstellen, was jetzt auf mich zu kommt.
„Ich bin enttäuscht von dir", meint er und das ist nicht so verwunderlich, schließlich hätte ich ihm als meine engste Bezugsperson in Dortmund wohl davon erzählen sollen. Ich schlucke und sehe meinen Dortmunder Kapitän direkt an. Da muss ich jetzt durch. Er wird es schon verstehen.
„Selbst Karim wusste es vor mir?", ruft er aufgebracht.
„Ja, aber nur weil ich ihm so besser erklären konnte, warum mich das mit ihm und Anna nicht so stört", versuche ich mich zu rechtfertigen. Der ältere sieht nicht wirklich überzeugt aus. Glaubt er mir überhaupt? Er sieht aus, als würde er jeden Moment, in dem er mit Kai und mir zu tun hatte, nochmal aus einem anderen Blickwinkel betrachten.
„Du hättest mir doch vertrauen können, Jule. Das weißt du doch, oder?"
Selbstverständlich weiß ich das. Ich hätte ihm sicher auch schon früher davon erzählt, wenn die Situation eine andere gewesen wäre.
Bevor ich antworten kann, legt Kai mir seine Hand auf die Schulter.
„Bevor du den armen Julian hier noch weiter fertigmachst, sollte ich dich wohl unterbrechen", meint er und verzieht etwas schuldbewusst das Gesicht.
„Ich bin mir sicher, er hätte es dir gesagt, wenn ich nicht so ein Arschloch gewesen wäre, und ihm damals verboten hätte, mit egal wem darüber zu sprechen", erklärt er weiter. Marco schaut ihn überrascht an.
„Also ist es eigentlich meine Schuld, dass er dir nichts gesagt hat." Marcos Blick ist plötzlich ein anderer. Er ist nicht mehr enttäuscht, sondern scheint plötzlich Mitgefühl zu haben.
„Ich... Sorry, ich denke hier nur an mich. Ich weiß überhaupt nicht, wie schlimm das für euch beide gewesen sein muss. Natürlich kann man sich auch nie vollkommen sicher sein, dass man jemandem so etwas anvertrauen kann. Ich wette es gibt auch hier den ein oder anderen, der nicht allzu begeistert ist", meint Marco schließlich. Der jüngere schluckt und nickt langsam. Da hat Marco ja wieder was losgetreten. Hoffentlich macht Kai sich jetzt nicht verrückt. Es wird immer Leute geben, die keinen Beifall klatschen, aber die sind mir egal solange sie uns respektieren und akzeptieren.
„Genau, man weiß es einfach nicht. Aber du... Du hast es doch bestimmt schon vermutet, oder?", fragt Kai meinen Mannschaftskapitän. Er lächelt schief und sieht mich an.
„Jule war schon immer sehr nervig, wenn es um dich ging. Nervig traurig, nervig nervös und nervig aufgedreht und nervig glücklich. Das hat mich manchmal mehr vermuten lassen und dann noch die Tatsache, dass ich euch gehört habe bei den Länderspielen im März", grinst Marco.
Kai seufzt kopfschüttelnd und wirft mir einen strengen Blick zu.
„Klasse Jule, wer hat uns wohl noch alles gehört? Erst Timo, dann Anna und jetzt auch noch Marco? Du solltest wirklich leiser sein", zieht er mich auf. Empört sehe ich ihn an.
„Entschuldigung? Ich? Ich soll leiser sein? Was ist denn mit dir, hm? Du bist wohl immer ganz still, was?" Marco schmunzelt belustigt.
„Also, ich habe hauptsächlich dich gehört", fällt der Penner mir auch noch in den Rücken. Kai lacht schallend los und wirft den Kopf in den Nacken.
„Ach haltet doch alle beide die Klappe", schnaube ich und Marco stimmt mit in Kais Gelächter ein. Ich hatte mir im März schon Sorgen gemacht, als Marco so blöd im Flugzeug nachgefragt hat. Aber ich hätte trotzdem nicht gedacht, dass er uns tatsächlich gehört hat.
„Ihr seid wirklich perfekt füreinander", lächelt Marco, als die zwei sich etwas beruhigt haben. Kai legt mir den Arm um die Schultern und küsst meine Schläfe.
„Das nehme ich mal als Kompliment", meine ich und lehne mich an meinen Freund.
„Das war auch eins. Ihr seid echt ein schönes Paar." Kai sieht richtig stolz aus, als er mir so in die Augen schaut.
„Danke Marco." Der ältere nickt und verlässt mit uns gemeinsam den Besprechungsraum.
„Habt ihr Bock auf eine Runde von diesem Sackwerfen-Spiel, oder wollt ihr lieber allein sein?", fragt er uns im Flur. Kai zuckt mit den Schultern.
„Mir egal, entscheid du", meint er und sieht mich erwartungsvoll an. Vielleicht ist es sogar ganz gut, sich jetzt sofort wieder in normale Aktivitäten als Mannschaft zu integrieren und um mit Kai allein zu sein habe ich später immer noch genug Zeit.
„Wir sind dabei", entscheide ich und wir folgen Marco nach draußen. Der jüngere an meiner Seite sieht genauso zufrieden aus, wie ich es mir erhofft habe. Das verbuche ich schon mal als Erfolg. Egal was noch kommt, einen ziemlich großen Schritt haben wir heute schon zusammen hinter uns gebracht.

You broke me first- BravertzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt