Surreal

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Julian

„If I knew it's gonna hurt this much, I wish I never laid my eyes on him."
- Higurashi Kagome

August 2020

Marco drückt meine Schulter und lächelt mir aufmunternd zu, während Emre mehr mit sich selbst beschäftigt ist.
„Komm schon Jule. So schlimm wird es schon nicht werden. Kai redet doch wieder mit dir", meint er leichthin. Ich nicke und setze mein Kameralächeln auf, mit dem ich ihn kaum mehr überzeugen kann. Ja Kai hat mit mir geredet, aber nicht mehr als ein paar Worte und dann auch nur über meine Gesundheit. Ich weiß gar nicht, wann ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Es muss das Spiel im Februar gewesen sein. Seitdem diese dämliche Pandemie ausgebrochen ist, ist sowieso alles noch komplizierter geworden. Immerhin haben wir mit dem Fußball jetzt wieder ein Stück Normalität zurückbekommen. Zeitweise dachte ich echt, dass ich bei mir zuhause durchdrehe. Nicht dass es mir gerade besser gehen würde.
Nach meiner letzten Begegnung mit Kai weiß ich noch weniger, wo wir eigentlich stehen. Vielleicht weiß er auch einfach selbst nicht, was er will. Sein Verhalten ist so unvorhersehbar, dass ich mit allem rechnen muss, wenn ich ihm gleich gegenübertrete. Doch das sollte mich eigentlich nicht mehr beschäftigen. Der Zug ist abgefahren.
Ich ignoriere die Fotografen und wende mich lieber gleich an die Fans, die nur darauf warten, dass ein Spieler für ein Autogramm oder ein Foto zu ihnen kommt. Ich erfülle ein paar von ihnen diesen Wunsch und betrete erst danach die Lobby des Hotels, in dem wir dieses Mal mit der Nationalmannschaft untergekommen sind.

Ich sehe ihn als erstes. In einem Raum voller Menschen findet mein Blick noch immer Kai am schnellsten. Er steckt bereits in den Sachen vom DFB, die wie immer viel zu gut an ihm aussehen. Keine Ahnung, warum er immer so heiß aussehen muss. Sogar seine Haare liegen perfekt. Er lehnt an einer Säule nah am Fahrstuhl und unterhält sich angeregt mit Timo Werner. Als hätte er meine Anwesenheit spüren können, hebt er den Blick und sieht mich direkt an. In seinen Augen spielen sich unzählige Gefühle ab, während mein Blick starr bleibt. Ich habe mit ihm abgeschlossen. Das muss er mittlerweile auch verstanden haben. Ich straffe die Schultern und begrüße ein paar der anderen Spieler und Jogi, bevor ich auf Kai und Timo zugehe. Mein Blick findet seinen erneut und wieder kann ich die Nervosität und Unsicherheit darin ablesen. Zumindest kurz, bis auch er sich aufrichtet und sein Blick leer wird. Ich schlucke das komische Gefühl in meiner Kehle nach unten, bevor ich weiter auf sie zu gehe.
„Moin", begrüße ich die beiden und nicke dem braunhaarigen zu. Kai befeuchtet seine Lippen und zieht am Ärmel seines Pullovers, während Timo breit grinst und mir mit seiner Hand über den Oberarm reibt. 
„Hallo Jule, schön dass du auch da bist", meint der dunkelblonde mit diesem leichten Lispeln, was ihn nur noch sympathischer macht. Ich erwidere das Lächeln und nicke auch ihm zu.
„Hey", ist alles, was Kai sagt oder eher krächzt. Schnell räuspert er sich und fährt sich verlegen durch die Haare. Ich versuche ihn nicht weiter zu beachten, als ich an ihnen vorbei zum Fahrstuhl gehe und am selbigen auf Marco warte, der ebenfalls ein paar Worte mit den beiden wechselt, bevor er zu mir kommt.
Erst als die Türen des Fahrstuhls sich schließen kann ich endlich richtig durchatmen. Das vielleicht unangenehmste habe ich also schon mal überstanden.
„Siehst du, war doch alles halb so schlimm", grinst der ältere. Wenn der wüsste... Ich brumme einen unbeteiligten Laut der Zustimmung als Antwort und hoffe, dass Marco mich danach in Ruhe lässt. Zum Glück haben wir Dank Corona Einzelzimmer und ich somit gleich endlich meine Ruhe.

Kaum 20 Minuten bekomme ich Zeit für mich und zum Auspacken. Danach werde ich schon von Marco und Emre abgeholt, da die übliche Besprechung noch vor dem Abendessen stattfinden soll. Gemeinsam begeben wir uns in den kleinen Saal, den das Hotel extra dafür hergerichtet hat. So wie es aussieht werden hier wohl auch die Pressekonferenzen stattfinden.
Wir setzen uns nebeneinander und Kai betritt mit Timo, Jona und Bernd im Schlepptau den Raum. Er sieht nicht sonderlich gut gelaunt aus, was ich ihm nicht übelnehme. Schließlich lässt unser Wiedersehen mich auch nicht kalt. Obwohl ich wünschte es wäre anders. Immerhin habe ich mit ihm abgeschlossen.
Ich habe so, so lange gewartet, dass irgendwas kommt. Eine Entschuldigung, ein Zeichen, dass er mich immer noch will. Irgendwas... Ich hätte alles genommen. Doch von Kai kam nichts. Überhaupt nichts. So lange habe ich mich nach ihm gerichtet und alles getan, um den jüngeren nicht zu überfordern. Ich war so vorsichtig. Ich habe ihn nicht mal meinen Freund genannt. Das Wort „schwul" so gut es ging vermieden und ihm nie gesagt wie verflucht doll ich ihn geliebt habe... Nur einmal habe ich mich getraut ihm zu sagen, was ich mir am meisten von ihm gewünscht hätte. Wie das geendet ist, brauche ich nicht nochmal zu erwähnen. Dass er auch gelitten hat, weiß ich selbst, aber er selbst hätte sein Leiden auch jederzeit wieder beenden können. Ich habe so lange gewartet. Jetzt nicht mehr. Es ist über ein Jahr her. Ich habe ihm mehr als genug Zeit gegeben. Irgendwann musste ich einen Schlussstrich ziehen. Andernfalls wäre ich wahrscheinlich komplett daran zerbrochen. Jona und Bernd gesellen sich zu uns, während Kai sich mit Timo zu Leroy, Ilkay und Toni setzt.
Seit wann sind die beiden denn so dicke miteinander? Habe ich was verpasst?
Bevor ich darüber nachdenken kann, fängt Jogi auch schon an zu reden. Es läuft ab, wie bei jedem Mal. Zunächst begrüßt er uns, danach besprechen wir kurz den Tagesplan und jeder von uns bekommt nochmal einen individuellen Terminplan ausgehändigt. Neu sind nur die Coronaregelungen, die wir ab jetzt einhalten müssen. Unter anderem beinhalten diese, außerhalb des Trainings Masken zu tragen, die uns auch gleich ausgeteilt werden. Irgendwie sinnlos, wenn man bedenkt, dass wir schon jetzt alle Zeit auf engstem Raum miteinander verbringen, aber ich bin mir sicher, dass hat auch viel mit der Wirkung auf die Öffentlichkeit zu tun.
Für heute steht zum Glück nur noch das Abendessen an und danach haben wir frei.

You broke me first- BravertzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt