Kapitel 2 - Willkommen auf Horseland

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Etwa ein Jahr zuvor

Es war vierzehn Uhr. Die letzte Runde würde gleich beginnen und entschied über Sieg oder Niederlage. Sie waren die fünfte Startnummer, die Konkurrenz war stark, aber sie konnten gewinnen!
Celia strich Tex über den Hals und er senkte den Kopf ein wenig, dass sie ihn an den Ohren kraulen konnte. Die Dunkelhaarige erkannte ihre Eltern in der Menge, ihre Mutter schoss begeistert Fotos von ihnen, obwohl sie noch nicht einmal in der Halle waren. Gleich würde ihre Startnummer aufgerufen werden und dann entschied sich das Turnier. Es wäre eine ihrer größten Siege überhaupt und Tex war in ausgezeichneter Form.
„Startnummer 414, vom Gestüt Texas Hill. Celia Campbell mit ihrem Hengst Tex Champions Hunter. Bitte in Position", ertönte eine Stimme durch das Hallenmikrofon und ihre Freunde, die ebenfalls hier antraten, jubelten lautstark.

„Okay, mein Großer", wisperte Celia ihrem Hengst zu und stieg in den Steigbügel. „Ich würde sagen, wir geben unser Bestes!" Zustimmendes Schnauben ertönte von Seiten ihres Pferdes und als sie am Halleneingang ihren Platz einnahmen, atmete die Dunkelhaarige tief durch. Sie war noch immer aufgeregt, obwohl sie so oft Turniere ritt, dass sie schon gar nicht mehr mitzählte. Und dennoch war es jedes Mal aufs Neue aufregend und sie nervös. Das Turnier heute war eins der größten des Landes und ihr Hengst eines der begehrtesten Pferde. Da sie angegeben hatte, er würde demnächst zur Zucht verfügbar sein, würden sie sich nur so die Finger nach ihm lecken. Obwohl das eher die Idee ihrer Mutter gewesen war. Sie rückte sich auf dem Westernsattel ein wenig zurecht, sortierte ihre Zügel und blickte stolz auf die Tribüne. Sie war bereit.
Sie gab Tex die Hilfen und er schritt in die Hallenmitte, wo er stehen blieb und Celia nochmals durchatmen. Dann nickte sie der Jury zu. Das Signal, dass sie anfing.

Tex machte seine Sache fantastisch. Sie trabten zwei Runden durch den Sand, legten dann die perfekten Drehungen des typischen Reinings hin und schickte ihr Pferd einige Schritte rückwärts. Dann ließ sie ihn galoppieren und lehnte sich ein Stück weiter nach vorne, die Zügel in einer Hand, genoss sie das Gefühl des starken Tieres unter ihr. Tex beschleunigte und als sie einen Kreis in der Mitte der Halle ritten, gab Celia den Befehl zum Galoppwechsel, den er ohne Federlesen ausführte. Sie beide waren wie eins, verstanden sich auch ohne Worte. Kurz wollte Tex eine Volte drehen, da Celia den Arm zu weit nach rechts hielt, sie konnte ihn gerade noch korrigieren und schimpfte über sich. Das wäre beinahe ein Fehler gewesen und bei der starken Konkurrenz könnte das ihr Aus bedeuten.
Schließlich ließ Celia ihn erneut beschleunigen und machte sich für den ersten Stopp bereit. Sie hatte den Parkour, auch Pattern genannt, natürlich schon lange geübt und auswendig gelernt. Tex raste los und wartete auf ihr Signal, welches Celia in der Mitte der Halle gab. Sofort senkte er die Hinterhand auf den sandigen Untergrund und rutschte einige Meter vorwärts, aber gleichzeitig lief er mit den Vorderbeinen bis zum Stillstand weiter.
Das müsste bisher eine volle Punktzahl sein. Celia nahm die Hinterhandwendung in Angriff und setzte zum zweiten Stopp an. Auch dieser funktionierte ohne Probleme, ebenso der dritte Anlauf. Nichts konnte sie aufhalten und auch bei dem Jubel auf den Tribünen, den sie nur am Rande mitbekam, schien der Sieg sicher. Tex legte noch ein paar Drehungen hin, machte einen langsamen Zirkel und dann gab Celia wieder das Signal zur Beschleunigung. Ihr Hengst wurde schneller und schneller, sie sah den Punkt, an dem sie halten mussten und konzentrierte sich darauf, nicht zu früh zu reagieren.

Da passierte es.
Es ging so schnell, dass Celia es nicht verhindern konnte. Tex begann mit dem Sliding-Stop, doch aus irgendeinem Grund nahm er die Vorderbeine nicht schnell genug nach vorne. Celia spürte einen Ruck unter sich und flog aus dem Sattel, unter ihr verschwand der vertraute Pferderücken und sie knallte mit dem Rücken auf den Sand. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, da kam sie auf dem Boden auf und augenblicklich schickte ihr Verstand sich selbst in den Urlaub. Der Schock setzte ein.
Sämtliche Luft schoss aus Celias Lungen, sie bekam keine Luft, begann zu keuchen. Schmerz stach ihr in den Rücken und ins Becken, ihr Kopf fühlte sich an wie mit einer Axt gespalten. Die erste Schrecksekunde regte sie sich nicht, lag nur da und starrte geschockt an die Hallendecke, bevor sie sich hustend umdrehte und ein Bild erblickte, bei dem ihr das Herz stehenblieb.
Sie waren gestürzt. Tex war ausgerutscht oder hatte sich mit den Füßen übertreten, sie musste zu früh das falsche Kommando gegeben haben. Nur ein wenig zu sehr zu Zügel angenommen? War der Beindruck zu stark gewesen? Tex war ein erfahrenes Pferd, er hatte schon hunderte dieser Stops gemacht und noch nie war er gestolpert. Es musste ihre Schuld gewesen sein.

Die ersten Schreie klingelten in Celias Ohren und alles, was sie sah, war das Tex auf die Beine kommen wollte, aber immer wieder scheiterte. Sein Bein stand in einem unnatürlichen Winkel ab und je öfter er auf die Beine zu kommen versuchte, desto panischer wurde er. Seine Nüstern wurden größer, die Augen schauten hektisch umher und Celia spürte, dass er auch litt. Ihre Schmerzen waren nichts im Vergleich zu seinen und bei dem Anblick drehte sich ihr der Magen um.
Er war verletzt. Ihr Hengst war verletzt und sie musste helfen!
Mit aller Kraft versuchte Celia, sich auf die Beine zu hieven, doch ihr Körper sendete so viele Fehlermeldungen an ihr Gehirn, dass der Schmerz ihr die Luft zum Atmen nahm. Sie war schon vom Pferd gefallen, das gehörte zu diesem Sport dazu, aber sie hatte sich dabei nie ernsthaft verletzt und noch nie war ihr Pferd mit ihr verunglückt.

„Ganz ruhig bleiben", ergriff jemand ihre Schulter und hinderte sie daran, zu Tex zu kommen. Sie erkannte ihren Vater, der mit ausgestreckten Händen auf den Hengst zuging und sanfte Worte murmelte. Im Hintergrund kam bereits der Tierarzt. Zum Glück war für Notfälle immer ein Arzt für die Tiere vor Ort.
„Ein Krankenwagen ist unterwegs!"
„Kann sie aufstehen?"
„Blutet sie?"
„Gott, das sah schrecklich aus."
„...können froh sein, dass sie das überlebt haben."

Diese und weitere Sätze drangen an Celias Ohren, während ihr die Tränen in die Augen schossen. „Bleib ganz ruhig liegen", sagte eine ängstliche Stimme. „Hilfe ist unterwegs."
„Tex", wisperte Celia von Grauen erfüllt. „Was ist mit ihm?"
„Der Tierarzt kümmert sich um ihn, Celia", sagte eine Stimme, die die Schwarzhaarige ihrer Mutter zuordnete. „Liegen bleiben, mein Schatz. Wir wissen nicht, ob etwas gebrochen ist. Tut dir was weh?"
„Mein Rücken", schluchzte Celia und atmete flacher. „Mein Rücken tut mir weh."
Schemenhaft erkannte sie, dass mindestens fünf Leute um sie herumstanden. Wieso war niemand bei Tex? Wieso halfen sie ihm nicht?

„Tex, was ist mit Tex?", keuchte Celia atemlos und schloss die Augen, als eine neue Welle von Schmerzen ihr ins Rückgrat schoss.
„Er ist verletzt, Celia. Wir werden uns um ihn kümmern, aber du musst ins Krankenhaus. Du bist auch verletzt, der Krankenwagen kommt gleich", sagte eine ängstliche Stimme, die Schwarzhaarige erblickte die neunjährige Tochter der Gestütbesitzerin. Sie atmete unregelmäßig und Tränen liefen ihr aus den Augenwinkeln. Das war ein Albtraum.

Gegenwart

Mit nachdenklicher Miene schaute Celia aus dem Autofenster und kaute auf ihren Fingernägeln. Ein Jahr war der Unfall jetzt her. Ein Jahr seit Tex mit einem Bruch im Sprunggelenk in eine Klinik und sie mit einem gebrochenen Steißbein und mehreren Prellungen ins Krankenhaus gekommen war. Ständig hatte sie vor Ärzten den Unfall erneut schildern müssen und während andere sich an solche Momente nicht erinnern konnten, war es für sie, als würde derselbe Film immer und immer wieder ablaufen.
Monate waren vergangen, bis ihr Bruch verheilt war und sie mit vielen Kraftübungen wieder auf die Beine gekommen war, doch bei ihrem Hengst war es noch schlimmer. Dadurch dass ein Pferd seine Beine immer belastete und als Fluchttier natürlich nichts von Schonung verstand, war seine Heilungsphase furchtbar gewesen. Eine lange Zeit war die Frage im Raum gestanden, ob es sich überhaupt lohnte, für das Leben des Hengstes zu kämpfen. Es war nie sicher gewesen, ob er sich je wieder erholte und ein Leben voller Schmerz und ohne die nötige Bewegung und den Auslauf, würde er durchdrehen. Celia hatte den Unfall so gut es ging verdrängt, zu der Zeit hatte sie sehr viel geweint. Sie wollte nicht mehr daran denken.

„Jetzt mach nicht so ein Gesicht", hörte sie die Stimme ihres Vaters. „Und kau nicht auf deinen Nägeln. Du hast sie ja schon wieder ganz runtergekaut."
„Tut mir leid", gab Celia monoton zurück und erwischte durch den Rückspiegel den mitleidigen Blick ihres Vaters. „Ich muss schon sagen, Horseland liegt ein wenig weiter entfernt als Texas Hill. Vielleicht sollten wir darüber nachdenken, dir ein Fortbewegungsmittel zu besorgen, bis du ein eigenes Auto hast."
„Oder ihr hättet Tex einfach in seiner gewohnten Umgebung lassen können, statt ihn auf irgendeine Ranch abzuschieben, nur weil er es gewagt hat, sich mal zu verletzen", zischte die Schwarzhaarige herablassend und er seufzte. „Bitte Celia, nicht heute. Diese Diskussion beansprucht meine Nerven."
„Ach, deine Nerven? Und was ist mit meinen?"
„Sei nicht böse, Celia", murmelte ihr Vater sichtlich mitgenommen. „Deine Mutter hat in einer Sache recht, die Versorgung eines Pferdes ist sehr teuer und wenn du mal eigenes Geld verdienst, wirst du das auch selbst merken. Solange sie das Sagen hat, wirst du dich damit abfinden müssen. Außerdem ist Horseland ein sehr bekanntes Gestüt, du wirst neue Freunde finden und aus der Erfahrung vielleicht sogar etwas lernen."
„Ich brauche keine neuen Freunde und Erfahrung", brummte Celia schlecht gelaunt und schaute weiter aus dem Fenster.

„Wer weiß, vielleicht bekommst du hier dein Problem wieder in den Griff und ihr seid im Nu wieder in Texas Hill", sagte ihr Vater und die Schwarzhaarige versteifte sich augenblicklich. „Darüber will ich nicht reden!"
„Mein Engel", kam es vom Fahrersitz. „Es wird nicht besser werden, wenn wir nichts dagegen machen." „Wir müssen nichts machen. Ich schaffe das schon alleine", sagte Celia, klang jedoch nur halbherzig überzeugt. Ihr Vater seufzte und bog nach links in die Einfahrt ab.

Celia erblickte die ersten Wiesen und schließlich kam ein Gebäude in Sicht. Außerdem erkannte sie in der Ferne einen Reitplatz und mehrere Leute, die vor dem Eingang warteten. War sie angekündigt worden? Sie wusste, dass ihre Mutter alles in die Wege geleitet hatte, aber ein großes Willkommen wäre dennoch nicht nötig gewesen.
„Da wären wir. Tex wird sich hier pudelwohl fühlen", murmelte ihr Vater und schnallte sich ab. Die Schwarzhaarige blieb auf ihrem Platz und musterte die verschiedenen Personen, welche vor dem Stall standen. Es war deutlich kleiner als auf Texas Hill, dort hatten sie noch eine Reithalle und eine Infrarotkabine. Außerdem gab es mehrere Offenställe, aber ihr altes Gestüt beherbergte auch das Dreifache an Pferden.

Celia erkannte, dass auch Chloe und Zoey unter den Einstellern waren. Neben ihnen stand ein Mädchen mit langen, blonden Haaren und wieder daneben eine Braunhaarige. Auch ein Mann mit dunklen Haaren war dabei und winkte gerade ein Mädchen mit pinker Reitweste herbei. Ganz vorne stand ein großgewachsener blonder Kerl, der freundlich lächelte und scheinbar warteten alle darauf, dass sie endlich ausstieg.
Celia beobachtete, wie ihr Vater dem jungen Mann die Hand reichte und Chloe und Zoey begannen begeistert zu reden. Gewiss hatten sie ihn von dem Turnier wiedererkannt. Die Verwechslung, dass Tex irgendwie bei den Stuten gelandet war, hatte zum Glück keine verletzten Pferde gefordert, doch der Hengst war daraufhin stundenlang kribbelig gewesen und nur herumgetänzelt. Sie hatten ihn kaum wieder in den Anhänger bekommen.

Schließlich beschloss Celia, dass ihr aufmüpfiges Verhalten nichts brachte. Sie musste sich damit abfinden, dass bis auf weiteres Horseland ihr neues Gestüt war. Vielleicht beruhigte sich ihre Mutter wieder, die eigentlich schon kurz davor war, ihrer Tochter das Reiten zu verbieten, da der Unfall so schlimm gewesen war.
Celia drückte die Autotür auf und verließ den Wagen.


Moonlight over TexasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt