Schweigende Wut

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-Nathalies Sicht-

Die dunkle Substanz verschluckte mich. Weder flüssig noch gasförmig wand sie sich um jedes einzelne meiner Körperteile und begann sie neu zu formen und zu verändern.
Kurze Zeit später ließ sie von mir ab und verschwand. Ich hielt inne. Um mein Aussehen zu betrachten, ging ich vor eine Fensterscheibe. Nein. Ich schwebte dorthin...?

Wow. Mein neues Aussehen war gespenstisch. Jedes kleine Kind würde von mir Albträume bekommen, so viel stand fest. Meine Haare waren offen. Und weiß. Als gäbe es keine Schwerkraft, waberten sie wie Nebelschleier um meinen Kopf. Mein Gesicht! Es war auch weiß. Meine Augen: schwärzer, als ein sternenloser Nachthimmel. Doch mit weiß schillernden Pupillen. Einen Mund besaß ich nicht. Immerhin blieb meine Nase unverändert. Sie war allerdings  ebenfalls weiß, wie der Rest von mir. Ich trug vermutlich ein Kleid ohne Träger. Sonderlich sicher war ich aber nicht,  denn ab meiner Taille endete mein Körper in vielen unzähligen Fäden. Jeder von ihnen leuchtete in einer anderen Farbe. Sähe mein insgesamtes Erscheinungsbild nicht so schaurig aus, wäre es wirklich wunderschön gewesen. Ähnlich wie meine Haare vermittelten sie den Eindruck, sie führten ein Eigenleben und tanzten in der leichten Brise, die wehte, umher. Arme und Beine fehlten gänzlich. Als letztes bemerkte ich, dass ich immernoch meine Ohrringe trug. In ihnen befand sich der Akkuma, dass spürte ich.

Schweigend begutachtete ich mich ein letztes mal. Das war ich nun. Ira. Der neue Name und das neue Aussehen nahmen leider keinen Einfluss auf meine Gedanken.
Warum akkumatisierte Gabriel mich jetzt?
Wollte er verhindern, dass ich mich verwandle?
Aber Adrien ist verschwunden!
Ist der Junge ihm so egal?!
Normalerweise wäre ich nun wütend gewesen. In dieser Nacht blieb ich dennoch komplett ruhig und betrachtete diese Fragen gleichgültig, wie eine Außenstehende von oben herab. Scheinbar nahm die Akkumatisierung doch Einfluss auf mich. Es war, als hätte jemand meine Emotionen zu einem Klumpen zusammengepackt und irgendwo tief in mir drin vergraben. Sie waren mir bewusst.
Allerdings relativ egal.
Hätte ich einen Mund, müsste ich nun schmunzeln: Das er (Mund) fehlte änderte kaum etwas. Ohnehin hatte ich nie etwas zu sagen. Und selbst wenn ich ihn mal aufmachte, kümmert es keinen. Eigentlich müsste "Ira" "die Schweigende" bedeuten. Tat es aber nicht. Es bedeutete "Wut". Wut hatte zu meiner Verwandlung geführt.
... Gabriel hatte zu meiner Verwandlung geführt.
Interressanterweise betrübte auch dieser Fakt mich kein Stück.

Was sollte ich nun tun? Ladybug und Cat noir würden so wohl kaum auf mich aufmerksam werden. Ziellos begann ich durch die Straßen zu schweben.

-Cat noirs Sicht-

"Sie wurde akkumatisiert! Beobachten wir sie. Wir finden heraus, was ihre Kraft ist und starten einen Überraschungsangriff", durchdachte Ladybug schon  unsere Strategie. Ich dagegen war wie gelähmt. Nathalie hatte keine Ähnlichkeit mehr zu sich selbst. Sie sah eher aus wie ein Geist. Nach einem flüchtigen Seitenblick stellte ich fest, dass auch Milady nicht ihre übliche starke Körperhaltung hatte, sondern wie erstarrt war. Fasziniert sah sie zu Nathalie hinab.
Das machte mir Hoffnung, nicht direkt mit der vermeindlichen Schurkin kämpfen zu müssen, was ich hoffte, möglichst umgehen zu können.
"Sie sieht nicht aus, als wolle sie Schaden anrichten. Vielleicht können wir auch mit ihr reden", schlug ich daher vor.
Ladybug sah mich mitleidig an.
"Cat noir"
"Äh, ja?"
"Sie hat keinen Mund."
Schockiert sog ich die Luft ein. "WAS?! Das hatte ich nicht bemerkt"
"Du warst mal wieder in Gedanken, Kätzchen. Streng. Deinen. Kopf. An. Und dank deiner Nachtsicht solltest du auch den Durchblick haben.", machte meine Partnerin sich über mich lustig.
"Ja schon. Aber irgendwie... naja sie ist-"
"Weg." Ladybug sah entnervt auf die Straße hinab. "Sie ist weg."
Seltsamerweise erleichter darüber, entspannte ich mich wieder. "Hat dein bereits angestrengtes Köpfchen eine Idee wo sie hingegangen sein könnte?"
"Cat noir"
"*seufz*Ja?"
"Sie hat keine Beine."
"HÄ?! Warte- WAS???"

-Iras (Nathalies) Sicht-

Die Stille war herrlich. Zurzeit fuhren nicht sehr viele Autos und sah ich eine Straße mit Passanten, so bog ich in eine andere.
Worauf warte ich? Ich sollte Adrien suchen.
*seufz* Bei meinem Aussehen erkennt er mich vermutlich nicht.....
Und während ich so durch die Gegend glitt, schweiften meine Gedanken weiter ab.
Was ist nun eigentlich GENAU meine Fähigkeit? Ich könnte es ja mal testen. Aber das wäre ohne Grund nicht fair und wenn mich jemand anschweben sieht, nimmt er bestimmt die Füße in die Hand und rennt um sein Leben.  Moment. Eigentlich.....
Vorsichtig begann ich, immer höher zu schweben. Es klappte.
Nun war ich schon knapp über den Dächern. Ich nahm an Geschwindigkeit auf und spürte die kühle Luft, die an mir vorbeirauschte. Der Wind reinigte meinen Kopf, von all den Sorgen und Fragen. Paris konnte so friedlich sein. Neugierig warf ich einen Blick in ein naheliegendes Fenster. Die Vorhänge waren nicht richtig zugezogen. Dicht bei einander lagen im Zimmer eine Frau und ein Mann. Sie teilten sich eine Bettdecke. Süß. Friedlich schlummerte in einem Beistellbettchen ein kleines Kind daneben. Es war keine zwei Jahre alt und hatte sich von seiner Bettdecke freigestrampelt. Zufrieden kaute es auf einer Ecke von dieser herum.
Familienglück. Wer es kennt, hält es für selbstverständlich. Wer es nicht hat, sehnt sich mehr danach als nach allem anderen.
Ach Adrien...
Ich wandte mich ab und flog zu einem weiteren Fenster. Zwischen den beiden Gardinen war nur ein winziger Spalt offen, also flog ich noch näher an die Scheibe heran und spähte hindurch. Und jemand spähte zurück. Die Gardinen wurden ein Stück aufgerissen, ich hörte einen gedämpften Aufschrei und Dinge umfallen, während jemand aus dem Raum stolperte.

Perfekt. Jetzt wird die Polizei gerufen. 'Ladybug und Cat noir sollten mal ihre Nummern bekannt geben.'
Ist das gut oder schlecht? Naja, so erhalte ich Aufmerksamkeit. Früher oder später werden die Helden sich ebenfalls zu uns gesellen.

Kopfschüttelnt ließ ich mich auf der Regenrinne nieder und beschloss, auf Roger zu warten. Was besseres viel mir auf Anhieb nicht ein.

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