Mit raschen Schritten ging sie durch die Gänge, hielt dann ihren Finger auf den Display und zog beim Surren mit einem raschen Ruck die schwere Türe zur Privatsektion auf. Arbeit wartete. Nach der kurzen Pause hatte sie neuen Elan um sich die restlichen Aufgaben vorzunehmen. „Ich hab das Gymnasium als Klassenbeste abgeschlossen. Auch in Mathe".
Oh. Das war Miga. Auf ihre Provokation folgte nur Schweigen. In dem Moment kam sie an dem Raum vorbei, aus dem die Stimme geklungen hatte und bevor sie sich fragen musste, ob sie grüssen, zu nicken oder klammheimlich vorbei schleichen sollte, hatte Miga sie schon entdeckte. Sie sprang auf und eilte auf sie zu. „Giu", rief sie dabei.
Guianna blieb sofort stehen. -„Hi", begrüsste sie, doch ganz kurz glitt ihr Blick an der anderen vorbei und suchte ihren Chef. Als ob er es spüre, hob er plötzlich den Kopf und ihre Blicke trafen sich. Rasch konzentrierte sie sich wieder auf seine Schwester. „Wie läuft's im Studium?", fragte sie, vor Augen hatte sie jedoch noch sein Bild wie er an der Wand gelehnt stand und mit einem Stift spielte. Brauner Bürostuhl. So weit sie seinen Gesichtsausdruck hatte sehen können, war er hart und verbergend gewesen. Der kurze Blickabtausch vibrierte in ihr nach. Wie tief sie hatte sehen können, wenn auch ohne es lesen zu können. Für einen Augenblick hatten sich die Fingerspitzen ihrer Seelen berührt.
„Es schleppt sich.", seufzte Miga und Guianna wischte rasch die Gedanken zur Seite um ihr zu zuhören. „Manchmal hab ich das Gefühl Dozenten glauben, Studierende hätten mindestens 29 Stunden pro Tag zur Verfügung statt 24." Dann winkte sie ab. „Hat bis jetzt immer irgendwie geklappt.", fuhr Miga fort und wechselte dann das Thema. „Ich hab inzwischen mit den anderen und Jimin gesprochen um deine Aufgaben festzulegen.", verkündete sie und marschierte zu dem Aquarien-Büro.
Guianna zögerte einen klitzekleinen Augenblick. Er war noch da. Sie hielt sich mit Mühe davon ab, nochmals in den Raum zu schielen, doch für einen Atemzug fragte sie sich erneut, ob sie so etwas wie Verlorenheit unter der aufgerichteten Eisschicht gesehen hatte, aber es war zu kurz gewesen, um sicher zu sein. Und er war der Chef - kühl, kontrolliert. Also ob sie sich Gedanken um ihn machen müsste - Er war ihr Chef. Sie schüttelte den Kopf und folgte Miga rasch und mit gemischten Gefühlen. Irgendwie hatte sie sich schon so daran gewöhnt, seine Berichte abzutippen und andere Texte Korrektur zu lesen. Eigentlich war sie nicht schon wieder für etwas Neues bereit. Eigentlich war sie das nie. Unsicherheit schlich wie ein kalter Geist heran. ,Du schaffst das', versuchte sie sich in Gedanken zu ermuntern. ,Und wenn du was nicht kannst, dann kannst du's erlernen.' Doch die Gedanken erstarben zu Eis im eisigen Hauch des Ungewissen. ,Atmen!', ermahnte sie sich, als sie zu Miga an den Schreibtisch trat. ,Atmen'. Doch er glitt ihr weg.
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,Atmen', befahl sie sich eine gute Stunde später wieder. Miga war gerade eben aus dem Zimmer gesaust. Guianna war erleichtert und überfordert zugleich zurückgeblieben. Es waren machbare Aufgaben. Erlernbare. Aber manche waren fremd, ungewohnt. „Ich hab keinen Plan, ob ich das kann.", sagte sie in Richtung Aquarium. „Ihr habt's gut. Schwimmen. Fressen. Luftblasen ausstossen. Da kann man nicht allzu viel falsch machen."
Sie schluckte schwer. Seele in Unruhe. Sie war voller Fragen und hatte doch schon zu viel gehört. Informationen zu den Informationen über die sie informiert worden war. Belämmert stand sie auf und schob den Stuhl an den Tisch. Ihr Blick fiel auf ihre hastigen Notizen und wanderte weiter zu seinem handschriftlichen Bericht. Es fehlte nur noch eine Vorder- und eine Rückseite, dann hätte sie den Bericht zu Ende abgetippt. Doch es klappte nicht. Sie hatte es versucht. Ihre Gedanken glitten immer gleich wieder davon.
,Luft', dachte sie und ging rasch auf die Tür zu. Ihre Wangen fühlten sich heiss an. Bestimmt waren sie knallrot - die linke Wange ein bisschen knalliger als die andere. Wie so oft wenn sie gestresst war oder überfordert. Eine Runde durchs Quartier an der frischen Luft, dann würde sie sich schon wieder fangen.
Mit hastigen Schritten durchquerte sie den Durchgangsbereich und erst als sie die Tür hinter sich schloss, fragte sie sich, ob sie gerade an ihrem Chef vorbei gezischt war als wäre er so wenig existent wie ein Hologramm. ,Nun', dachte sie, während sie weiter eilte, beinahe süchtig nach dem Draussen. ,Wenn es wichtig ist, dann kann er mir schreiben.' Ihr Handy hatte sie dabei. Sie spürte es in der Hosentasche. Als sie einige Minuten später wieder durch den Haupteingang ins Gebäude trat, zog sie das Handy erneut aus der Hosentasche: Keine Nachricht von ihm.
Erleichtert stellte sie fest, dass er auch nicht entnervt im Durchgangsbereich auf sie wartete. Vielleicht war sie vorhin gar nicht unfreundlich an ihm vorbei marschiert, weil er gar nicht da gewesen war oder er war selbst auf dem Weg in einer seiner Räume gewesen und hatte sie gar nicht bemerkt. Sie zuckte die Schultern und hörte nur noch nebenbei, wie die Türe hinter ihr ins Schloss schnappte. Und das schabende Geräusch, das entstand, wenn jemand von einem Bürostuhl aufstand, nahm sie erst recht nicht mehr bewusst war. Ihre Gedanken eilten schon voraus zu dem letzten Rest Arbeit, während ihre Beine sie durch den Raum trugen. „Deine Arbeitszeit ist seit geraumer Zeit vorbei."
Ruckartig blieb sie stehen und sah zu ihm. Er stand im Türrahmen seines üblichen Raumes. Ihr Verstand war voller Rechtfertigungen, doch sie sagte Nichts. Stattdessen sprach er weiter. „Es reicht völlig, wenn der Bericht bis Morgen zur Zehn-Uhr-Pause fertig abgetippt ist. Gehen Sie nach Hause!" Es klang wie ein Befehl. Sie nickte stumm, dankbar. Dann verschwand er schon wieder in der Tiefe seines Raums.
Das ,Auf Wiedersehen.', erstarb auf ihren Lippen, bevor sie es richtig zu formen begannen. Sie ging in Migas Büro und holte ihre Tasche. Die Aquarien hatte sie schon versorgt. Dennoch warf sie noch einen kurzen Blick darauf. Alles in Ordnung. Mit zügigen Schritten verlies sie den Raum, löschte dabei das Licht ohne zu verlangsamen.
Erst als sie die Eingangstüre zur Privatsektion öffnete, hielt sie kurz inne und sah zu dem Raum, in dem er war. Sie war müde. In ihrem Kopf spuckten immer noch all die Informationen herum und immer wieder kam das Echo der selbstzweifelnden Frage, ob sie dem gewachsen war. Doch jetzt als sie dorthin sah, lächelte sie. Dennoch. Sie konnte atmen, hatten sich doch ihre Seelen an den Fingerspitzen berührt. Erneut.