Miga war da. Und sie wollte alles wissen. ,,Und? Wie macht sie sich?" hatte sie gefragt. Sie hatte den Namen nicht genannt. Es war auch so klar gewesen, wen sie meinte. Sie war seit letzten Montag nicht mehr hier gewesen — im Studium war gerade viel los — aber nun hatte sie offenbar die Neugierde hergetrieben und sie war äusserst erpicht auf neue Details.
,,Komm schon, Jimin! Straf mich nicht mit Schweigen. Ich hab mich gerade mit Janis und Kaya durch das Organisatorische gekämpft und die Aufgabenbereiche von Guianna festgelegt. Ich brauche eine Belohnung. Da kannst du mir doch mindestens sagen, wie sie sich macht.", maulte sie, doch er hatte nichts gesagt. Da hatte sich seine Schwester plötzlich aufgerichtet und ihn mit diesem dein-Schweigen-verrät-mir-alles-Lächeln bedacht.
Er ergab sich. Besser er sagte was, bevor sie sich zu wilde Geschichten zusammenreimte. -,,Keine Ahnung!" Er hob den Kopf nicht und starrte auf den Stift, der zwischen seinen Fingern herumwirbelte. Gerade kreiselte er auf der Handoberfläche unterhalb seines Daumens, immer wieder von seinem Zeigfinger angestubst.
„Am zweiten Tag stand sie, weiss ich wie lange, vor der Tür, weil ihr Fingerprint noch nicht eingespeichert war und sie sich offenbar nicht traute mich zu fragen, nur um mir dann Gestern ins Gesicht zu sagen, dass meine Handschrift schwerer zu entziffern sei als Hieroglyphen vor der Entdeckung des Rosettensteins.", erzählte er trocken, während sich der Stift wie ein Rad kreisend vom kleinen Finger zum Daumen hoch bewegte und wieder runter. Irgendwie hatte ihn ihre Offenheit beeindruckt - und überrascht. Er hatte nicht erwartet, dass sie so unscheu sein konnte.
„Wo sie Recht hat, hat sie Recht.", kommentierte Miga belustigt und verkniff sich offenbar nur schwer ein Lachen. Sie war so entspannt wie schon lange nicht mehr. Etwas an ihrer Haltung befeuerte ihn. Als müsse er diesen Moment ausnutzen. Als könne er ihr endlich genügen. Einfach in dem er sie unterhielt.
„Jedenfalls...", fuhr er fort, den Blick wieder auf den Stift gerichtet, während vor seinem inneren Auge die letzten Stunden vorbei glitten „hat sie sich so erschrocken, als ich vor einer Stunde in ihr Büro kam, dass sie ihren Stiftbechers vom Tisch stiess", erzählte er weitere Episoden und der Stift drehte sich auf dem Rücken seiner Finger wie ein B-Boy beim Kaffeemühle-Move. Vielleicht war sie eben doch scheu. Oder einfach schreckhaft. ,,und sie fragte mich, ob sie die ganzen - ich zitierte - ,fragmentarischen, ellipsenartigen Sätze' ausformulieren oder so unkorrekt belassen solle.", fuhr er fort. Oder doch nicht. Jedenfalls war es nicht besonders schüchtern sowas dem Chef direkt zu sagen.
Er sah kurz zu seiner Schwester. Mit einem Grinsen lehnte sie sich wippend in den Bürostuhl zurück und liess den Blick durch den Raum gleiten. Sie zog provokant amüsiert die Augenbrauen hoch. Was sollte das? Er war ein Idiot. Warum hatte er ihr überhaupt so viel erzählt? Was ging es sie an, welche Schnitzer seiner Sekretärin unterliefen? Er hätte nichts sagen sollen. Es war nicht fair, dass er für selbstsüchtige Zwecke Dinge von ihr preisgegeben hatte.
-„Sie ist dir ein Rätsel.", stellte Miga mit Genugtuung fest. -„Nein!", widersprach er hart und widmete sich wieder dem Stift. Dieser hing momentan zwischen seinen Fingern und schwang wie ein kreiselndes Pendel nach unten und im Kreis wieder nach oben und wechselte dann im Schwung den Platz zwischen den Fingerspitzen. Er versuchte Migas Blicke zu ignorieren. Sie trieb ihn in die Ecke und zur Weissglut mit ihrem ewigen wissenden Lächeln.
„Rätsel kann man lösen.", hörte er sich sagen, während seine Gedanken kurz wieder zur Sekretärin huschten. Ihr scheuer Blick, wie sie rot wurde und sich auf die Lippe biss als er sie vor der Tür wartend angetroffen hatte und dann gestern als sie die Schublade zu knallte und seine Schrift mit Hieroglyphen verglichen hatte - äusserlich ruhig, aber in ihr hatte er die Wut lodern sehen. Wenn er nur wüsste, warum sie wütend gewesen war. Und dann die Müdigkeit in ihren Augen und anfangs wieder die Scheu in ihren Bewegungen als sie abends in sein Büro gekommen war. Und Morgens hatte sie gesungen. ,,Sie ist einfach nur unlogisch.", rutschte es ihm raus und er hätte sich ohrfeigen können, dass er es laut gedacht hatte.
-„Ach..", meinte Mige in leicht spöttischem Ton und drehte den Stuhl zu ihm. „Ich dachte, es gibt nichts, das unlogisch ist, man hat nur die Logik noch nicht gefunden." -„Naturwissenschaften.", widersprach er stoisch und liess den Stift nun um seine ganze Hand drehen, als sei diese die Achse. „Ich sprach von Naturwissenschaften. Experimente, Berechnungen, Physik, Mathe, Musik..." Wenigstens kamen sie langsam vom Thema ab. Er wollte nicht weiter über die Sekretärin sprechen.
Vielleicht konnte er die Konversation noch weiter davon weglenken. Weiter wirbelte der Schreiber zwischen seinen Fingern, rauf und runter, als er provokativ fortfuhr: „Kunst ist unlogisch, Sprachen sind es, Frauen."
-„Vielleicht", meinte Miga und liess sich nicht aus der Ruhe bringen, nicht reizen, nicht kränken. Stattdessen fläzte sie sich weiter in seinem Bürostuhl. „Vielleicht hast du ja nur noch nicht den richtigen Algorithmus gefunden."
Gut. Sie kamen immer weiter vom ursprünglichen Thema ab und vielleicht vergass Miga das Ganze vollständig. Wenn er sie genügend reizte. Der Stift drehte sich, vom Zeigefinger angestossen, vor und zurück um den Daumen, auf dem Ring, den der Mittelfinger bildete, während er lässig an der Wand lehnte, die andere Hand im Hosensack.
„Spricht nicht wovon du keine Ahnung hast." Der Kommentar war beinahe beiläufig. So war es auch ihr Gegenkommentar. „Ich bin eine Frau.", meinte sie und zog süffisant die Augenbrauen hoch. „Ich meinte den Algorithmus.", war seine trockene Antwort. Noch immer beiläufig. Noch immer den Blick auf dem tanzenden Stift, der sich gerade wie eine Windmühle um seinen Zeigefinger drehte.
„Ich weiss was ein Algorithmus ist.", schoss sie zurück, nun doch leicht angegriffen. „Vergiss nicht", meinte sie dann ruhiger. „Ich hab das Gymnasium als Klassenbeste abgeschlossen. Auch in Mathe."
Böses Foul.
Ihr abruptes Verstummen zeigte, dass sie wusste, dass das gemein war. Er hatte es herausgefordert, das war es, was er wusste. Er war selbstschuld. Und er sagte nichts dazu.
Er spürte die Ungeduld, die sich in ihr staute. Sie wollte, dass er etwas erwiderte, aber er reagierte nicht. Mal wieder. Er sah innerlich regelrecht wie seine Schwester die Augen verdrehte. Aber er hob den Blick nicht, sondern starrte auf den Stift, der sich um den Daumen drehte wie ein Rad um die Achse.
Sein Schweigen nervte sie - wie immer. Die Luft war erfüllt von ihrer Genervtheit. Sie verstand es nicht. Wie sie auch die innere Lähmung und seine Wortlosigkeit nie verstanden hatten. Er sah kurz hoch und sah ihren vernichtenden Blick, doch sagte auch dazu nichts. Was sollte er auch sagen?
Im nächsten Moment sprang sie auf und liess ihn links liegen. Er fühlte keine Traurigkeit darüber, keine Erleichterung. Er starrte einfach weiterhin auf den Stift. Jap. Sie war Klassenbeste gewesen.
„Giu!" Etwas in ihm erwachte bei dem Ruf.
Guianna? Wann war sie zurückgekommen? Er sah ihm Augenwinkel, dass sie gerade durch den Eingangsbereich am Eingang zu diesem Raum vorbei ging. Bei Migas Ruf blieb sie stehen. Sie trug wieder die weissen Turnschuhe. So viel sah er von ihr.
Er sah nicht auf, aber sie sah zu ihm. Es war doch ihr Blick, der ihn für einen kurzen Augenblick fixierte? Reflexiv hob er den Kopf und da trafen sich ihre Blicke. Rasch, beinahe peinlich berührt sah sie weg. Ihre Haar rutschte dabei nach vorne und verdeckte den Glitzerstein ihres rechten Ohrsteckers. Sie ging zu seiner Schwester und verschwand mit der Bewegung aus seinem Sichtfeld.
Er hörte sie lächelnd „Hi" sagen und wie sie sich erkundigte, wie es Miga im Studium ginge. Da schaltete er ab. Der Blickkontakt war kürzer als ein Atemzug gewesen, aber dennoch fühlte es sich an als hätten sie sich berührt. Sachte, wie die Berührung eines Grashalms. Er starrte auf den Stift auf seiner Hand. Wann war er zum Stillstand gekommen?