2.10 Wenn der Vorhang fällt

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Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Sich voll auf die Aufgaben konzentrierend, hatte sie versucht sich von ihrem Ausbruch und möglichen Folgen abzulenken, dennoch hatten die Gedanken daran ihr ständig über die Schulter geschaut und ihr kalt in den Nacken geblasen. 

Ihr Inneres vibrierte als sie aufstand und aus dem Raum trat. Sie riss sich so oft zusammen und versuchte, den negativen Gefühlen keinen Raum zu geben. Vor allem liess sie solche Gefühle schon gar nicht durch ein von anderen wahrnehmbares Ventil entweichen. Das wäre eine Belastung für andere. Es würde sie verletzlich machen. Angreifbar. Verachtbar. 

Warum hatte sie die Maske nicht für die paar Minuten wieder errichten können? Aber sie hatte es nicht getan. War genervt gewesen. Und nun war ihr schlecht. Er hatte vorhin nicht auf ihre Unhöflichkeit reagiert. Ob er es jetzt nachholte? Sie zur verachteten Schnecke machte? 

Nicht in der Lage anständig zu atmen, ging sie zu der Türe rechts und klopfte. Irgendwann musste sie ihm wieder gegenübertreten. Es weiter vor sich herzuschieben verlängerte nur die Qual. „Herein." Knapp, kühl, genervt. Gewohnt. Damit konnte sie umgehen. Rasch trat sie ein. „Können Sie..." Sie verstummte als er ruckartig den Kopf hob. War da etwas? Etwas auf seinem Gesicht? Ein Ausdruck? Wenn, dann war es... Erstaunen? Und als sie es sah, atmete sie. 

„Sie? Was machst du noch hier?" Seine Stirn war gerunzelt. Guianna suchte ihre Stimme. Sie? Ja, sie. Wer sonst? Niemand kam in diesen Privatbereich. Nicht ohne seine Freigabe. Na gut, Miga auch. Ja, sie, Guianna, war hier. Sie war kein Geist. Auch wenn sie sich gerade so fühlte; Hauchdünn, als könne ein Atemzug von ihm sie wegwehen. Ausgelaugt. Nur noch ein Schatten vor Müdigkeit und Unsicherheit. Ja, es war weit nach ihrer Arbeitszeit, aber ja, sie war noch da und er sah sie an. 

ER SAH SIE AN. Rasch hielt sie ihm das Klemmbrett hin. „Wenn Sie mir noch kurz eingekreisten Wörter auf den Seiten vier, sieben und acht von oberen Bericht und die auf Seite 5 und 7 beim unteren Bericht nennen, dann füge ich die noch ein. Korrektur hab ich den Rest schon gelesen. Die anderen Dokumente habe ich Ihnen ja bereits geschickt. Den letzten Bericht schicke ich Ihnen dann gleich." 

Er hatte ihr das Klemmbrett wortlos abgenommen, darin geblättert und gelesen. Nun hob er den Kopf. „Das Wort auf Seite 4 ist heterogen und die drei Wörter auf der Seiten 7 sind obgleich, selektiv und durchführbar. Auf Seite 8 steht alkoholisch, da sollte aber alkalisch stehen, auf Seite 5 steht uneindeutiges Ergebnis und Versuch. Und auf der anderen siebten Seite steht Blut-Gehirn-Schranke. Stevens wird Sie mit dem Wagen Nachhause fahren." 

Guianna, die eilig das Handy gezückt und sich die Wörter notiert hatte, war schon auf halbem Weg draussen, als sie seinen letzen Satz halbwegs mitbekam. Sie blieb stehen und drehte sich um. „Mein Chauffeur steht mit dem Wagen in circa zehn Minuten am Eingang. Geht das für dich?" Sie nickte verdattert und ging dann aus dem Raum. Erst als sie sich drüben setzte, wurde ihr bewusst, dass sie das Klemmbrett bei ihm vergessen hatte. 

Kurzentschlossen liess sie es da. Sie brauchte es nicht unbedingt. Die entschlüsselten Wörter hatte sie sich notiert und sie musste ja nur noch die paar Lücken im Text ausfüllen. Sie erledigte das und überflog nochmals den Text um grobe Rechtschreibefehler zu finden. Zum Glück hatte sie ihn vorhin schon mal Korrektur gelesen. Mit der Meldung, dass bald Feierabend sei, hatten sich ihre letzten Energiereste verabschiedet. Sie würde vielleicht nicht mal mehr merken, wenn dei, statt die stehen würde. In der Hoffnung, dass sie zuvor alle Fehler, zumindest die gröbsten, eliminiert hatte, schickte sie den abgetippten Text an ihren Chef. Dann fuhr sie den Computer herunter, warf einen Kontrollblick in die Aquarien und schnappte sich Handtasche und Handy. 

Ein letzter Blick zurück, dann schaltete sie das Licht aus und ging mit raschen Schritten in den Durchgangsbereich. Abrupt kam sie zum Stehen. Gerade noch rechtzeitig. Er stand da. Es dauerte einen Augenblick, bis sie das Klemmbrett entdeckte, dass er ihr entgegen streckte. -„Oh.", machte sie und nahm es entgegen. „Danke." Sie ging eilig ins Zimmer zurück und legte es auf den Schreibtisch. 

Als sie zurückkam, war er noch immer da. „Auf Wiedersehen!", murmelte sie und warf ihm einen kurzen, scheuen Blick zu. „Danke vielmals!" Dass damit der Chauffeur und so weiter gemeint war und nicht mehr das Klemmbrett, sollte er selbst entschlüsseln. Sie wollte die Situation nicht länger strecken als absolut nötig. Durch sein plötzliches, erschreckendes Auftauchen munterer geworden, huschte sie flink durch die Tür aus der Privatsektion hinaus. Darüber wie wach sie auf einmal wieder war, war sie selbst amüsiert. Mitten im schwungvollen Schritt verharrte sie. Hatte er auf sie gewartet?

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Am nächsten Morgen fragte sie sich noch immer: Hatte er gewartet? Wie lange? Im Durchgangsbereich? Warum? Er hatte noch nie ihr Büro betreten. War nie über die Türschwelle gegangen. Aber er war zumindest bis dorthin gekommen. Warum diesmal nicht? Als ob er sich vor ihr gefürchtet hätte. Als ob er sie nicht noch mehr hatte reizen wollen. Aber sie war ja gar nicht mehr genervt gewesen. Als ob er rücksichtsvoll gewesen wäre. 

Hastig hielt sie ihren Finger auf den Display. Wie auch immer. Sie zog die Tür auf und betrat den Raum, um den sich ihre Gedanken gedreht hatten. Ein seltsam süsses Gefühl stieg in ihr auf, wenn sie an den gestrigen Abend dachte. Er hatte seinen Chauffeur beauftrag sie Nachhause zu fahren. Noch immer fühlte es sich seltsam. Der teure Wagen, der hier direkt vor der Eingangstüre stand. Der elegant gekleidete Chauffeur, der ihr die Türe aufhielt. Hinten im Auto zu sitzen, alleine, in einem fast leeren Auto. Draussen war die nächtliche Stadt vorbei geglitten. Und sie war in diesem Auto gewesen, wissend, dass jeder der draussen war, ein schickes Auto sah, gespiegelte Scheiben und dahinter als ein kühler Schatten ihre Silhouette. 

Sie hatte dem Chauffeur geheissen oben an der Hauptstrasse zu halten und war die letzten Minuten zu Fuss gegangen. Als würde es ihr nicht zustehen, bis vor die Haustüre gefahren zu werden. Sie wollte nicht unnötige Umstände machen. Als würde es auf die paar Meter noch ankommen. Trotzdem. 

Es war schon seltsam. Ihr Boss hatte sie in seinem Wagen Nachhause fahren lassen. Es fühlte sich merkwürdig an. Als hätte er sich in der Person geirrt. Seltsam. Tja. Das war er. Lächelnd schüttelte sie den Kopf und betrat ihr Zimmer. Ihr Zimmer. Ja, tatsächlich. Es fühlte sich immer mehr danach an. Mehr als nur ausgeliehen. Und doch nur vorübergehend. Temporäres Eigentum. Seltsam zu denken, dass dies erst ihr fünfter Tag hier war. 

Des Genies SekretärinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt