21 Erstanpassung.

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┊  ┊  ┊          ★ ISABELL

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„Erzähl mir noch mehr", bat ich Harry und sah ihn so gut ich konnte mit einem Schmollgesicht an. Wahrscheinlich sah ich statt niedlich eher aus, wie jemand, der sich gleich in die Hose kackte. Doch ich wollte ihn gebärden sehen. Unbedingt.

Der Puh-Pasch hatte mein Herz aufgehen lassen, als Harry mir zum ersten Mal zeigte, wie er mit den Händen sprach.

Es war so wunderschön.

Natürlich waren seine Bewegungen abgehakt und stockend. Aber es war meine Sprache, die er sich bemühte zu lernen. Da war es mir auch völlig egal, dass meine beste Freundin ihn erfolgreich abgefüllt hatte. 

Amanda meinte später per WhatsApp zu mir, dass sie viele interessante Details über Harry erfahren hatte. Der versaute Emoji in Form eines Würstchens und dem F-Gebärdenzeichen ließen mich ahnen, dass ich keine Details wollte.

Ich schaffte es nur Harry an jenem Abend ins Taxi zu verfrachten und dann auf der Couch abzusetzen, weil er mir aufs Wort parierte. Wie ein wohlerzogener Hund. Ich zog Harry die Schuhe aus und ließ ihn seinen Rausch ausschlafen. Am nächsten Morgen hatte er das Gefühl in einer Art Vorhölle aufgewacht zu sein.

Wehleidig zog er von der Couch ins Bett, dann unter die Dusche und wieder auf die Couch. Tja, das waren die liebevollen Nachwirkungen eines Puh-Pasch-Wochenendes.

Danach verkrümelten wir uns ins Wohnzimmer und ich versuchte ihn dazu zu bringen weiter mit mir zu Gebärden.

»Januar, Februar, März, April«, fing Harry panisch an und ich lächelte. Natürlich war er noch nicht besonders weit und der Kurs für Anfänger deckte ganz simple Vokabeln ab. Aber mein Herz schwoll an, als ich sah, wie ernsthaft er sich bemühte. Er konnte die Wochentage, zählen bis 1000 und ganz simple Sätze.

Ich wollte ihm helfen, und so gebärdeten wir mehr miteinander. Wir übten Lebensmittel, wo Harry Gurke und Wurst ständig verwechselte und probierten zahlreiche Filmtitel. Trotzdem las ich noch viel von den Lippen ab. Bei Harry fiel mir das leicht, aber ich war auch froh, wenn ich ihn wieder sprechen hörte.

Mein Kopf heilte, genauso die Stelle hinter dem Ohr. Das schmerzende Gefühl eine starke Mittelohrentzündung zu haben, klang ab. Es blieb jedoch das Gefühl, dass da irgendwas im Kopf war und Druck ausübte, wenn ich im Bett auf der Seite lag. Bald würde es zur Gewohnheit werden und ich es nicht mehr wahrnehmen.

Das Gleichgewicht besserte sich, auch wenn ich aktuell keine Challenge gewinnen würde, bei der man auf einem Bein stand.

Schließlich kam Tag X.

Er stand rot in meinem Kalender und ich hatte ordentlich Muffensausen. Man würde mir heute zum ersten Mal die neuen Prozessoren anschließen und ich nach Wochen die Stille verlassen. Schon morgens war ich total hibbelig und stand viel zu früh auf. Ständig geisterten Fragen und Ängste durch meinen Kopf.

Was, wenn mir nicht gefiel, was ich hörte? Wenn alles zu viel wurde? Ich kannte ein paar Kandidaten, die implantiert waren, aber das Cochlea-Implantat nicht nutzten und sich komplett der Gehörlosengemeinschaft zugewendet hatten.

Ich wollte hören, denn ich vermisste es. Aber..., wenn es so anstrengend war, dass es weh tat, würde ich es dann immer noch wollen? Hören war eine so intensive Kopfsache, dass man das nicht mit einer Brille vergleichen konnte. Quasi anschließen, Implantate einstellen und fertig war man.

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