22. Bemuttert

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Bemuttert

Marie suchte ihr Ladekabel. Während des Video-Chats mit Lucia war die Akku-Anzeige auf einen beunruhigend niedrigen Wert gesunken. Sie fand das Kabel im Schlafzimmer und schloss das Handy in der Küche an. Es hatte gutgetan, sich bei Lucia noch mal alles von der Seele zu reden. Auch wenn sie jetzt fast schon wieder ein schlechtes Gewissen hatte. Zu viel, zu lang. Und sie hätte mehr fragen sollen, wie es Lucia momentan ging. Aber in der Regel sagte Lucia von sich aus, wenn ihr irgendwas auf dem Herzen lag. Also war das wohl okay. Ja, es war okay so.

Sie ging wieder ins Schlafzimmer, bezog das Bett neu. Die Waschmaschine dürfte auch durchgelaufen sein. Sie stellte den Wäscheständer auf die Dachterrasse und hängte die Wäsche auf. Es war trocken heute, kalt und ein wenig windig. Vor einer Woche waren Felix und sie noch im Meer geschwommen. Absurde Vorstellung. Sie beeilte sich reinzukommen. Nicht, dass sie sich auch noch erkältete.

Zurück in der Küche griff sie nach dem Stapel Briefe, die sie vorhin aus dem Briefkasten genommen hatte, und sortierte sie. Die meisten waren für Felix. Bei einem kam ihr die Handschrift sehr bekannt vor. Sie musste grinsen. Zwei Briefe waren für sie. Einer amtlich, einer ebenfalls handschriftlich adressiert. Und aus Italien. Sie musste noch breiter grinsen. Aber den Brief würde sie sich aufbewahren für später. Sie schaute an den Kühlschrank. Der Magnet, den Felix im Urlaub an einem kleinen Kiosk mit allerlei Touri-Kram gekauft hatte, war dort schon platziert.

Marie öffnete den zweiten Brief. Finanzamt. Sie überprüfte das Datum. Das hatte noch Zeit. Eine kleine Nachzahlung und ein paar Angaben, die fehlten. Bisher kam sie ganz gut damit klar, diese Dinge zu erledigen. Aber Felix hatte ihr empfohlen, einen Fachmann hinzuzuziehen. Vielleicht würde sie das tun.

Sie schaute auf die Uhr. Felix war im Büro mit Julian. Er wollte eigentlich nur ein, zwei Stunden dort bleiben, hatte er gesagt. Für mehr war er noch nicht wieder fit genug. Marie beschloss, ihm zu schreiben.

Marie: Macht ihr noch lange?

Auszeit. Eigentlich befand Felix sich gerade in einer Auszeit, ja. Keine Touren, keine Auftritte. Nur Hack. Aber er war umtriebig, trotz allem. Das war wohl klar gewesen, von Anfang an. Nur gerade jetzt...

Marie: Du sollst dich doch besser noch schonen.

Sie klang wie ihre eigene Oma. Aber sie machte sich Sorgen. Es klopfte.

Felix: Sind gleich fertig hier.

Marie war etwas beruhigt. Gut. Dann konnte sie sich gleich hinsetzen und ein wenig an dieser blöden Kampfszene schreiben.


Sie gähnte und klappte den Laptop zu. Wie im Rausch hatte sie geschrieben. Das Ganze war vielleicht etwas experimentell geraten. Vielleicht war es auch Müll. Die Zweifel überkamen sie, wie so oft, wenn sie etwas Ungewöhnliches geschrieben hatte. Aber sie kannte das schon. Sie würde das Geschriebene jetzt einfach ruhen lassen und es sich am nächsten Tag noch mal durchlesen. Da war dieses flaue Gefühl in der Magengegend, als sie ihr Smartphone antippte. Es war später als sie befürchtet hatte. Und Felix hatte sich nicht wieder gemeldet. Sie stand auf, ging ins Bad, gönnte sich nur einen flüchtigen Blick in den Spiegel, während sie sich die Hände wusch. Als sie die Tür öffnete, hörte sie ein Geräusch. Ein Husten. Felix. Marie ging in den Vorflur, lehnte sich an den Türrahmen und beobachtete Felix, der gerade seine Schuhe abstreifte, bevor er erneut von einem heftigen Hustenanfall ergriffen wurde, bei dem er sich die Faust vor den Mund hielt. „Mann!", sagte Marie und ihr tat der vorwurfsvolle Tonfall schon leid, aber sie konnte nicht anders. „Du hörst dich schlimm an. Was denkst du dir denn? Du bist krank, da musst du doch nicht noch Überstunden schieben, oder?"

Grace Notes (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt