Kapitel 1.2

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~Seth

Die Straßen Londons waren belebt, bunt, vielfältig und dennoch hing der Dreck und das Grau einer Großstadt in der Luft. Ein Geruch nach Fisch und Essig drang mir von dem gegenüberliegenden Geschäft in die Nase und ließ mich angeekelt das Gesicht verziehen. Ich hatte keine Ahnung, wie man etwas so abartiges essen konnte. Konzentriert versuchte ich, meine Gesichtszüge wieder zu glätten und einen neutraleren Gesichtsausdruck aufzusetzen. Das wirkte sich besser auf die Summe an Geld aus, die ich von den Leuten erhielt. Und ich brauchte dieses Geld, auch wenn ständig Leute an mir vorbeiliefen, die diese Absurdität der englischen Küche in der Hand hielten.

Meine Finger glitten über die Saiten meiner Gitarre, spielten die vertrauten Akkorde, die ich fast jeden Tag spielte. Ich hasste es. Ich hasste die Leute, die stehen blieben und mir zuhörten, ich hasste es, meine Stimme in der Fußgängerzone der englischen Hauptstadt zu hören. Ich hasste, dass ich mich hierfür entschieden hatte, obwohl ich dutzende andere Jobs hätte annehmen können. Und wahrscheinlich hasste ich, dass ich für die ganze Situation niemand anderen als mich selbst hassen konnte.  

Ich zwang mich zu einem Lächeln, als eine Frau einen Fünf-Pfund-Schein in die Metalldose vor mir legte. Der Stundenlohn dieses Jobs war zugegebenermaßen ziemlich unschlagbar. Mir wäre trotzdem so ziemlich alles andere lieber. Sogar ein Job in dem verdammten Fish and Chips Laden gegenüber. 

Ich spielte die letzten Akkorde des Songs und senkte den Blick, als ich das übliche Klatschen vernahm. Meine Muskeln spannten sich an. Ein Lied noch und ich wäre hier für heute durch. Dann konnte ich nach Hause.  Mir fuhr ein Schauer über den Rücken. Epsom, ein Vorort von London, würde wohl niemals mein Zuhause sein, aber eine eigene Wohnung konnte ich im Augenblick vergessen- vor allem, wenn ich eine Schule gefunden hatte, die die Lücken in meinem Lebenslauf akzeptierte. Dann würde ich meinen Abschluss nachholen. Und dann... dann würde ich wohl ein menschliches Leben führen. Mit einem Job. Und ich würde mich jeden Tag meines Lebens daran erinnern, wie sehr ich versagt hatte. 

Die nächsten Zeilen des Songs klangen bitterer, rauer. Ein paar neue Münzen wanderten in die Dose. Classic Rock in akustischer Version kam hier erstaunlich gut an. Ich konnte die sanften Gitarrenklänge mittlerweile nicht mehr hören, aber den Leuten gefiel es. Das war das wichtigste.
Ich spielte die letzten Zeilen, versuchte das darauffolgende Klatschen der Leute auszublenden und zwang mich zu einem kurzen Lächeln. Dann machte ich mich daran, meine Sachen zusammenzupacken, verstaute das Geld und warf mir die Tasche mit meiner Gitarre über die Schulter. Mit zitternden Fingern griff ich in meine Jackentasche und nahm die Packung Zigaretten heraus. Während ich durch die Fußgängerzone lief, zündete ich mir eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug.
Seit... seit das alles passiert war, hatte ich noch immer das Verlangen nach Seelen, der Art und Weise, wie sich mein Körper angefühlt hatte, wenn ich mir eine genommen hatte. Die psychische Abhängigkeit, die ich danach noch immer verspürte, machte mich an manchen Tagen beinahe wahnsinnig. Zigaretten waren nicht so gut - bei weitem nicht, aber sie gaben mir etwas. Und das war besser als nichts.
Ich spürte die Blicke der Leute auf mir, neugierig, misstrauisch, so intensiv, dass sie mir auf der Haut brannten. Sie spürten und sahen, dass ich nicht hierher gehörte. Man hatte mir meine Kräfte genommen, aber das machte mich nicht zu einem von ihnen.

Ich beschleunigte meine Schritte, um die nächste Bahn noch zu erwischen. Je näher ich dem Bahnhof kam, desto dichter wurden die Menschenmengen. An manchen Tagen war es immer noch irritierend, so viele von ihnen auf einem Haufen zu sehen. So viele Menschen, durch deren Adern kein Tropfen göttliches Blut floss. Ich hatte lange Zeit kaum mit Menschen zu tun gehabt, das hatte sich schlagartig geändert.

Wenigstens war die Bahn heute nicht überfüllt, was meinen Heimweg deutlich angenehmer gestaltete. Wirklich scharf darauf, nach Hause zu kommen war ich nicht, aber es war auch nicht besser, noch länger in London herumzuhängen. Ich steckte meine Kopfhörer in die Ohren und schloss die Augen. Ich fragte mich, ob ich mich jemals an dieses Leben gewöhnen würde. Daran, den ganzen Tag Dinge zu tun, die mir widerstrebten und daran, in einer Welt zu leben, in die ich nicht gehörte.
Je näher wir Epsom kamen, desto mehr verkrampften sich meine Muskeln. Nur sehr widerwillig stand ich auf und ging zur Tür, als der Zug schließlich am Bahnhof von Epsom hielt.

Die Wohnung war nicht weit vom Bahnhof weg, im gemütlichen Laufschritt benötigte ich etwa zehn Minuten. Etwas länger, wenn ich es nicht darauf anlegte, möglichst schnell dort zu sein. Ich holte tief Luft, dann kramte ich meinen Schlüssel heraus und schloss die Tür zur Wohnung auf. Mein Blick fiel auf das Paar Schuhe, das im Flur stand. Sie war da.

Ich drückte die Wirbelsäule durch, dann ging ich weiter in Richtung Küche.

,,Hallo Seth."

Jeder Muskel in meinem Körper spannte sich an. Man könnte meinen, ich hätte mich mittlerweile daran gewöhnt, sie zu sehen und ihre Stimme zu hören, aber... an manchen Tagen machte es mich immer noch fertig.

,,Hey."

Ich hörte, wie sich Schritte aus dem Wohnzimmer näherten. Ich öffnete die Metalldose, nahm einen guten Anteil des Geldes heraus und legte ihn in die Schublade, in der Mum Bargeld aufbewahrte.

,,Du musst das nicht tun, Seth."

Als ich aufsah, stand sie am Türrahmen zum Wohnzimmer  und sah mich wachsam an. Ich wusste noch nicht, wie ich damit umgehen sollte. Bevor ich ans Internat gegangen war, war ich ihr lästiges Anhängsel gewesen, das sie mühsam mit sich hatte mitschleifen müssen. Seit ich hier war, bot sie mir Geld, ließ mich bei ihr wohnen, sie war... fürsorglich. Aber ich wollte kein Geld, es reichte, dass ich hier wohnen konnte und sie diverse Kontakte spielen ließ, damit ich eine Identität bekam, mit der ich in dieser Welt etwas anfangen konnte.

Ich schloss die Schublade und drehte mich um. ,,Ich weiß."

Einen Moment sah sie mich einfach nur an. Dann schüttelte sie langsam den Kopf. ,,Ein Bekannter von mir unterrichtet an einer Privatschule in Westminster. Die Leute dort schauen weniger auf die Akten, als auf das Schulgeld."

Ich räusperte mich. ,,Du kannst nicht auch noch eine Privatschule für mich bezahlen. Irgendwann werden die Behörden das mit meinen Papieren schon hinbekommen, dann -"

,,Geld spielt keine Rolle", fiel sie mir ins Wort. Ihr Blick wurde prüfender, ich hatte das Gefühl, dass mir ihre nächsten Worte nicht gefallen würden. ,,Aber die Leute dort... sie haben Geld."

Ich verstand, was sie mir damit sagen wollte. ,,Eine Schule für schnöselige Kapitalisten-Kinder?" Schnaubend stieß ich die Luft aus.

Sie neigte den Kopf zur Seite und betrachtete mich. ,,Die Entscheidung liegt bei dir. Ich kann jederzeit den Kontakt herstellen, wenn du bereit dafür bist."

Scheiße, ich war nicht bereit. Egal, ob es nun eine Schule für verwöhnte Snobs war oder eine staatliche Bruchbude. Je schneller ich meinen Abschluss hatte, desto schneller würde ich hier rauskommen, aber ich war nicht bereit für etwas derartig... menschliches. Mir stellten sich die Nackenhaare auf, aber ich nickte langsam. ,,Snob-Schule klingt großartig. Ich werde darüber nachdenken."

,,Gut." Sie nickte mir zu, dann drehte sie sich um und ging zurück ins Wohnzimmer.

Inferno - Todessohn IIIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt