01 Das Grand Hotel

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"Die Gäste verlangen maximale Diskretion. Kein Kichern, kein Flüstern, kein Niesen. Nicht einmal ein Blinzeln", schien eine stämmige Dame diese Anweisungen wie auswendig gelernt herunterzubeten. Ihre Stirn dabei unvorteilhaft in Falten gelegt, während ihre abgearbeiteten, trüben Augen jeden einzelnen durchbohrend anschauten.

"Sie haben eine einzige Chance", setzte sie weiter an, setzte sich mit langsamen, aber dennoch schweren Schritten in Bewegung. Ihre Absätze hinterließen nur ein dumpfes Geräusch auf dem Teppichboden. "Wenn Sie einen Fehler machen, sind Sie raus. Der Nächste steht schon mit einem Fuß in diesem Hotel, um diese Gelegenheit zu ergreifen." Mahnend musterte sie nun jeden einzelnen, der vor ihr stand.

„Schwach" dachte sie nur, als sie die Kleine anschaute, die schon jetzt am ganzen Körper zu zittern begann. Sie lenkte ihren Blick einschüchternd auf sie und hoffte für sie, dass sie sich unter Kontrolle bringen konnte, ihre geistige Stärke ihrer körperlichen überordnen konnte. Doch je länger sie sie anschaute, desto heftiger zitterte das zierliche Mädchen, dessen Haare ein wenig zu locker zugeknotet waren und dessen Wangen einen Tick zu rot waren.

"So etwas können wir hier nicht gebrauchen."

Ihre Stimme war eiskalt. Mit einem kurzen Winken deutete sie in Richtung Tür - die Aufforderung sofort zu verschwinden. Kurz blinzelte das Mädchen noch fassungslos mit seinen langen Wimpern, als sei es nur eine Probe, der es widerstehen musste. Doch diese Probe hatte sie schon verloren, als Miss Adele sie fokussiert hatte. "Raus!", rief sie und alle zuckten zusammen.

Mit einem raschen Nicken und gesenktem Kopf lief das Mädchen aus dem Raum. Ihre schnellen Schritte hallten durch den gesamten Raum

Vermutlich konnten wenige behaupten, schon an ihrem ersten Arbeitstag einer so charmanten Dame wie Miss Adele ausgesetzt zu sein. Einer Frau, deren Lebensmittelpunkt dieses Hotel darstellte. Einer Frau, die schon vor Jahren ihre eigenen Bedürfnisse ihrem Beruf untergeordnet hatte.

Ihre grauen Haare, so streng sie noch zurück gesteckt waren, waren zum Beginn ihrer Zeit hier noch pechschwarz gewesen. Aber so war das an diesem Ort - die einen mussten ihr Alles geben, damit die anderen hier residieren konnten. Die Entscheidung darüber, an welcher Seite dieser Gegensätze man sich wiederfand, traf schlichtweg das Schicksal. Entweder man war reich geboren worden, oder führte ein armes Leben.

So erging es auch Harold Shelby - vermutlich einer derjenigen, denen Miss Adeles Auftritt noch am wenigsten zusetzte. Er hatte die letzten Jahre in den verschiedensten Hotels gearbeitet, Empfehlung für Empfehlung seiner Vorgesetzten gesammelt, nur um hier zu stehen.

Im für die Gäste abgeschlossenen Bereich des wohl bekanntesten Hotels seiner Zeit. Dem Grand Hotel.

Mit ihm befanden sich noch etwa 15 andere in diesem Raum, alles potenzielle Konkurrenten, die ihn in den nächsten Tagen und Wochen ausstechen konnten - vermutlich auch wollten. So war das nämlich, zumindest wenn man hier Fuß fassen wollte und annähernd respektiert werden wollte. Man musste sich selbst der nächste sein und seinen engeren Kreis möglichst klein halten.

"Hat das jeder hier verstanden?", schreckte Miss Adele ihn aus seinen Gedanken hoch, doch er ließ sich nichts anmerken.

Niemand wagte es, nur einen Laut von sich zu geben, stattdessen nickten alle und senkten ihren Blick demütig zu Boden.

"Dann gehen Sie auf Ihre Zimmer. Morgen um vier werden Sie in der Küche erwartet und wir gehen Ihren zukünftigen Tagesablauf durch."

Mit diesen Worten verließ Miss Adele den Raum und ließ die Neulinge hinter sich. Einige brauchten noch einige Sekunden, um das zu verarbeiten, was gerade geschehen war. Harold hingegen gehörte zu denen, die ihr Gepäck stumm vom Boden hoben und den Raum wie befohlen sofort verließen.

Die Griffe seiner braunen Ledertasche waren schon stark abgetragen, sie hatten schon einige Jahre mitmachen müssen. Jahre, die er nur dafür gebraucht hatte, um hierher zu kommen.

Die Arbeits-Annonce hatte er vor gerade einmal einer Woche in den Anzeigen gesehen. Natürlich hatte er sofort das Logo erkannt und aufmerksam gelesen, wen sie für was suchten. Auch wenn die Anzeige wieder einmal schmeichelhaft umschrieb, dass er an diesem Ort sämtliche Herabwürdigungen ertragen werden müsste, hatte er sich dazu entschieden, hierher zu kommen. Auch wenn es bekannt war, dass man anderswo einen leichteren Alltag hatte, glich es schon einer Auszeichnung, von sich behaupten zu können, im Grand Hotel gearbeitet zu haben.

"Ich bin übrigens Thomas", reckte sich ihm eine Hand entgegen, sobald er seine etwas schäbige Tasche vor das Fußende seines neuen Bettes stellte.

"Harold." Er griff die Hand und schaute seinem Gegenüber in die Augen. "Sie haben einen festen Händedruck", stellte er fest und grinste schief. "Wie es sich gehört", erwiderte Thomas ebenfalls mit einem Lächeln und begann, die Fliege um seinen Hals zu lösen. Auch Harold lockerte die seine.

"Ich will gar nicht wissen, wie sie mit den Zimmermädchen umgeht", stellte Thomas fest und Harold konnte ihm nur nickend zustimmen, damit beschäftigt sein weißes Hemd aufzuknöpfen und von seinem Oberkörper zu streifen.

"Ich glaube bei ihr hat niemand es leicht." Harold fuhr sich durch seine Haare, spürte das getrocknete Haargel an seinen Handflächen und versuchte, es ein wenig aus seinen braunen Haaren zu lösen. "Ich bin übrigens aus Redditch", fügte er nach kurzem Überlegen hinzu. Hier zu Beginn einen Verbündeten zu haben könnte trotz des Konkurrenzkampfes wohl nicht schaden.

"Birmingham", antwortete Thomas knapp und in diesem Moment hatten wohl beide für sich entschlossen, einander zu mögen.

Harold legte sich in das kleine Bett, das schon bessere Zeiten gesehen hatte, und bemerkte erst jetzt, dass dieses Zimmer kein Fenster besaß. Vermutlich, damit man von außen nicht sehen konnte, wann die Angestellten aufstehen mussten oder wie lange sie in die Nacht hinein arbeiten mussten. Wie bei einem Uhrwerk - verborgen vor allen muss es immer funktionieren, ohne dabei je gewürdigt zu werden. Nur ein leises Ticken lässt erahnen, wieviel Arbeit hinter der Fassade steckte.

Harold öffnete das Metall-Etui auf seinem Nachttisch und zog sich eine Zigarette hervor. Seine Finger strichen einmal an ihr entlang, bevor er auch das Feuerzeug nahm und sie sich anzündete. Mit einem tiefen Seufzen führte er sie sich an seinen Mund und nahm einen tiefen Zug. Nun sank er noch tiefer in sein Kissen und schloss für einen Moment die Augen.

"Warum tue ich mir das nur an", dachte er sich und nahm einen weiteren Zug, einen Arm nun hinter seinem Kopf positioniert. Dabei wusste er es insgeheim - er wollte es sich und den anderen beweisen. Er wollte es dem Grand Hotel beweisen.

Das Grand HotelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt