C L A R K
Früher haben meine Eltern mir Gruselgeschichten über verlorene Geister erzählt, die mich als Kind bereits sehr fasziniert haben. Sie sagten, dass sie in der Nacht, sobald die Uhr drei schlägt, aus ihrem Versteck hervorkommen und den Menschen eine Heidenangst einjagen, während sie dabei eine teuflische Freude empfinden würden. Dass sie Dinge schweben oder bewegen lassen, um den Schrecken noch besser unterstreichen zu können.
Andere Kinder hätten vor Angst nicht mehr schlafen können, aber das traf nie auf mich zu. Ich war eben schon immer anders.
Jede Nacht habe ich darauf gewartet, dass mir ein solcher Poltergeist einen Besuch abstattet. In meiner Fantasie hat sich das, als etwas Einzigartiges manifestiert, das ich unbedingt erleben wollte.
Die Jahre vergingen langsam, bis ich die Hoffnung ganz aufgegeben habe, da mich keiner von ihnen besuchen wollte. Was ich aber niemals für möglich gehalten hätte, war, dass sich alles änderte, als ich diese Bar eröffnete.
Nacht für Nacht besuchen mich die verlorenen Seelen. Ich kann sie sehen, aber nicht berühren. Und doch können sie die Gegenstände herumwirbeln, wie es mir als Kind bereits erzählt wurde. Nur gibt es eine simple Regel in meiner Bar. Wenn du hier hinein willst, musst du dich benehmen. Ob tot oder lebendig, das ist mir egal. Wer nicht hinausfliegen will, hält sich daran und den meisten ist ein Gespräch mit mir wichtiger, als sich in ein Gruselmonster zu verwandeln.
Mein Blick gleitet durch den gedimmten Raum. Antike Tische aus geschnitzter Eiche, die auf beiden Seiten ihren Platz gefunden haben, glänzen um die Wette. Die dunkelbraunen Sofa-Nischen laden zum Verweilen ein, während die alten Kronleuchter den Gästen eine ausgelassene Stimmung erzeugen. Eigentlich passt nichts zueinander und doch gibt mir dieses Bild das gewisse Etwas.
Sobald ich alles abgecheckt habe und zufrieden mit dem Ergebnis bin, drehe ich das Schild an der Tür um. Keine Sekunde später kündigt die Klingel einen Gast an.
»Clark! Endlich hast du die Bar eröffnet. Ich konnte es kaum erwarten, weil ich dir unbedingt etwas erzählen muss.«
Mit einem Lächeln drehe ich mich zu Tony um, der bereits ganz hibbelig auf dem Stuhl hockt und mich mit großen Augen ansieht.
»Du kennst die Regeln. Was darf ich dir bringen?«
»Ja, tut mir leid, Clark. Ich bin nur so verdammt glücklich, wie schon lange nicht mehr. Und ich nehme einen Whisky.«
Augenblicklich mache ich mich an die Bestellung. Sobald er sein hellbraunes Getränk vor sich hat, hebe ich erwartungsvoll eine Augenbraue in die Höhe. »Was wolltest du mir erzählen?«
»Ally hat endlich jemanden kennengelernt und ich denke, dass es funktionieren könnte.«
Bei seinen Worten funkeln meine Augen in freudiger Annahme auf. »Das ist toll! Das freut mich sehr für deine Freundin und auch für dich.«
Tony besucht mich bereits seit einem Jahr. Am Anfang war er ein mürrischer Kerl, der die Tatsache nicht begreifen wollte, dass er nicht mehr unter den Lebenden verweilt. Es hat mich stundenlange Gespräche gekostet, bis er sich einigermaßen in den Griff bekommen hat und zu einem sehr fröhlichen Geist geworden ist.
»Kannst du das glauben? Sie lässt sich endlich auf jemanden ein.«
»Das ist eine tolle Sache. Ich habe dir doch gesagt, dass sie einfach nur Zeit braucht, um den Verlust verkraften zu können, Kumpel.«
Die Tür öffnet sich und kündigt einen neuen Besucher an. Dieses Mal einen Menschen, weshalb ich mich sofort aufrichte. Zwar wissen meine Besucher, dass ich ein komischer Kerl bin, nur sollten sie nicht denken, dass ich verrückt bin, weil ich Selbstgespräche führe. Aber zu meinem Glück teilen sich die beiden Gruppen auf. Während die Lebenden die Sitznischen bevorzugen, setzen sich die Geister an die Bar.
»Eine Sekunde, Tony. Bin gleich wieder bei dir.«
»Ich muss dir aber noch mehr erzählen, Clark. Das ist noch nicht alles.«
Die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme lässt mich aufhorchen. Meine Stirn legt sich in Falten, als ich meinem Stammpoltergeist zunicke. Auch wenn er sich für Ally freut, bedrückt ihn etwas. Mal sehen, ob ich ihm bei diesem Problem ebenfalls helfen kann.
Für einen kurzen Moment verlasse ich dir Bar, um die Bestellung aufzunehmen, bevor ich den Drink zubereite. Die ganze Zeit über hält er die bernsteinfarbene Flüssigkeit in der Hand und starrt in das Glas hinein. Beobachtet, wie es hin und her schwenkt, während ein trauriger Ausdruck auf seinem Gesicht erscheint. Ich muss dringend mit ihm reden, bevor sich dir Bar noch weiter füllt.
Unverzüglich stelle ich den Cocktail vor der Frau ab, um wieder an die Bar zurückzukehren. »Also Tony, was ist los?«
Meine Stimme ist leise und beruhigend zugleich. Ich hoffe, es vermittelt genau die Gefühle, die ich möchte. Denn als Seelentröster ist es meine Aufgabe, den verlorenen Seelen den Kummer für einen Augenblick zu nehmen und für sie da zu sein. Tief seufzt er auf und lässt die Schultern hängen.
»Das ist der letzte Abend, den ich hier verbringen werde.«
Die Furche auf meiner Stirn vertieft sich.
»Seit mein Wunsch wahr geworden ist, sehe ich seit Stunden diese Tür.«
Ah, daher weht der Wind. »Aber das ist doch gut, oder etwa nicht? Du willst doch nicht, dein ganzes Geisterdasein auf der Welt verbringen.«
Unschlüssig zuckt er mit den Schultern, während er weiterhin auf sein Getränk blickt. »Aber so könnte ich Ally weiterhin beobachten und sicher sein, dass es ihr gut geht.«
»Aber denkst du nicht, dass sie sich für dich wünschen würde, dass du endlich Frieden findest?«
Wieder zuckt er mit den Schultern. »Denke schon.«
»Dann weißt du, was du tun musst, Tony.«
Darauf erwidert er nichts mehr, weshalb ich ihn in Ruhe lasse. Tony muss das für sich selbst entscheiden. Ich werde ihn zwar vermissen, jedoch denke ich, dass es das Beste für ihn ist. Immerhin glaube ich kaum, dass die Zwischenwelt als langfristige Lösung etwas Gutes bewirken würde.
Langsam aber sicher füllt sich die Bar, sodass ich mich um meine anderen Gäste kümmern muss. Ich widme meine Zeit jedem, der ein offenes Ohr braucht. Bin für sie da und versuche ihnen zu helfen. Am Anfang war ich leicht überfordert, aber nach all den Jahren habe ich mich daran gewöhnt und es akzeptiert, dass ich sowas wie ein Therapeut für sie alle bin.
»Oh mein Gott!«, höre ich eine Frauenstimme rufen, die sofort meine Aufmerksamkeit bekommt. »Das ist ja voll cool hier!«
»Herzlichen Willkommen in der Happy Hour. Was kann ich dir bringen?«, begrüße ich den Neuzugang. Ich habe sie noch nie gesehen, also vermute ich, dass diese junge Frau noch nicht lange tot sein müsste.
»Du kannst mich sehen?«
Der Schock ist ihr buchstäblich anzusehen, als sie auf die Bar zuläuft und mich aus großen Augen mustert.
»Ja, kann ich. Ich bin Clark und falls du jemanden zum Reden brauchst, bin ich für dich da.«
Der anfängliche Schock verschwindet, wird aber mit einer überraschender Neugier ersetzt. Für mich nichts Außergewöhnliches. Sobald mich ein Geist zum ersten Mal sieht, bekomme ich jedes Mal die gleiche Reaktion zu Gesicht.
»Heilige Scheiße! Ich bin Cassidy und es freut mich sehr, dich kennenzulernen, Clark.«
Sie streckt mir ihre Hand aus, die ich nur mit erhobenen Augenbrauen mustere. Verlegen lächelt sie mich an, als sie bemerkt, dass ich sie nicht berühren kann und zieht sie wieder zurück. »Oh, ich muss mich noch daran gewöhnen.«
Schnell winke ich mit der Hand ab. »Alles gut. Kann jedem passieren.«
Ihre Augen formen sich zu Schlitzen, bevor sie sich an die Bar setzt und irgendwie beschleicht mich ein Gefühl, dass diese Frau mir Probleme bereiten könnte.
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Seelentröster
RomanceAlle denken, dass Clark Stevens ein normaler und sehr aufmerksamer Barkeeper ist. Wenn sie etwas auf dem Herzen haben, erzählen sie ihm ihre Geschichte, um die Last auf ihren Schultern für einen Moment verschwinden zu lassen. Nacht für Nacht hört de...