19 | Abschied

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C L A R K

Ein Luftzug umhüllt uns, sodass ich meine Jacke enger an mich schmiege. Die Blätter, die bereits heruntergefallen sind und den Herbst ankündigen, knirschen unter meinen Sohlen. Die Sonne strahlt, jedoch schenkt sie uns nicht mehr die Wärme, wie noch vor einigen Wochen an Jules Geburtstag als wir am See waren.

Leider haben wir es nicht geschafft, ans Meer zu fahren. Dafür habe ich für uns eine Woche Urlaub im Süden gebucht und in einigen Wochen ist es so weit.

Ich kann es kaum erwarten, ihr Gesicht zu sehen, sobald sie das glitzernde Wasser erblickt. Mit ihr zu schwimmen und den Moment auszukosten. Aber bevor das passiert, müssen wir noch einige Dinge erledigen.

Das Tor ragt empor, als wir den Eingang des Friedhofs erreichen. Jules wollte nach diesem Morgen hierhin und ich wollte sie nicht allein lassen.

Auch wenn mir die Bilder etwas anderes zeigen, muss es, für sie immer noch schwer sein hierherzukommen.

»Geht es dir gut?«, hake ich nach, nachdem ich das Gittertor aufmache und ihr den Vortritt gewähre.

»Mir geht es gut, Clark.«

Zielsicher bewegen sich ihre Beine. Der Kies unter unseren Füßen knistert mit jedem Schritt. Schweigend folge ich meiner Freundin, ehe wir vor dem Grabstein stehen bleiben.

»Hallo Schwesterherz«, begrüßt sie Cassidy, sodass sich eine Sekunde später ihr Geist zeigt. Lächelnd blickt sie uns an, ehe sie sich neben Jules stellt und ebenfalls auf den Stein herunterschaut.

»Clark, kannst du bitte übersetzen?«

Verwirrt runzle ich die Stirn. Sie haben ihre Unterhaltungen auf ein Minimum reduziert, weshalb ich fragend meine Augenbrauen hebe.

»Es ist so weit. Ich will mich nur verabschieden.«

Meine Augen weiten sich, ehe mir die Worte über die Lippen kommen. »Cas ist hier und möchte gerne Lebewohl sagen.«

Ein Lächeln, das zeitgleich Traurigkeit und Freude vermittelt, bildet sich auf Jules Gesicht. »Hat sich ihr Wunsch erfüllt?«

»Oh ja und ich bin so glücklich deswegen! Seit heute Morgen sehe ich diese Tür, die mich überallhin verfolgt.«

Nachdenklich lege ich meinen Kopf schief. Hat es etwas mit diesen Bildern zu tun? Mit Jules Neuanfang, von dem sie gesprochen hat?

»Sieht ganz danach aus«, antworte ich auf Jules Frage.

»Das freut mich sehr für sie. Cassidy hat es verdient, endlich Ruhe zu finden und sich nicht mehr hier herumschlagen zu müssen. Auch wenn es mich schmerzt, dass sie dann komplett weg ist und ich ihre Anwesenheit nicht mehr spüren werde.«

Cas legt eine Hand auf ihre Schulter, die anfängt zu leuchten, sobald sie sich berühren. Jules Blick fängt sofort die Stelle auf, ehe sie ihren Kopf hebt und ihr in die Augen blickt. Tränen sammeln sich darin, die eine Sekunde später ihre Wange herunterkullern.

Bei diesem Anblick zerreißt es mir das Herz. Eine Gänsehaut überkommt mich, während ich selbst gegen die Tränen ankämpfe.

Ein Moment, der zugleich wunderschön und traurig ist.

»Ich werde nicht komplett verschwinden. In deinem Herzen, deiner Seele und deinem Verstand werde ich immer einen Platz haben und dich wissen lassen, dass ich bei dir bin. Ich will mir doch nicht entgehen lassen, dich bei deinem neuen Lebensabschnitt zu beobachten und mich mit dir zu freuen.«

Cassidys Hand wandert hinunter. Sanft streifen ihre Finger Jules Haut, ehe sie bei ihrem Bauch stoppen.

Mein Mund öffnet sich, jedoch dringt kein Laut über meine Lippen. Völlig perplex weiten sich meine Augen, als ihre Worte meinen Verstand erreichen. Sie meint doch nicht das, was ich denke, oder?

»Du wärst eine tolle Tante gewesen. Ich werde meinem Kind ganz viel über dich erzählen und dich mit den Erinnerungen am Leben erhalten.«

Tief atmen beide ein, wie ein Spiegelbild machen sie exakt die gleichen Bewegungen. Als wären sie eins.

»Du kannst mich hören?«, wispert Cassidy schockiert und dreht sich zu ihr um, ehe sie mit ihrer anderen Hand Jules ergreift und ihre Finger miteinander verschränkt.

Als von Jules keine Antwort kommt, wiederhole ich die Frage stotternd, bevor sie seufzend den Kopf schüttelt. »Ich kann deine Berührung spüren.«

Ich versuche mich zu konzentrieren, auch wenn es mir schwerfällt. Immerhin habe ich gerade erfahren, dass ich Vater werde. Meine Gefühle spielen verrückt. Die Tränen haben sich gelöst, während ich zittrig Luft hole.

»Darauf hoffe ich. Sie ist jetzt schon ein kleiner Wirbelwind. Lass sie nur nicht, die gleichen Fehler machen, wie ich.«

Erst jetzt bemerke ich, dass Jules die Augen geschlossen hat. Ihre Wangen sind ebenfalls nass, aber das Lächeln weicht keine Sekunde aus ihrem Gesicht.

»Wenn sie nur ein halber Sturkopf ist wie du, habe ich keine Chance. Aber ich werde es versuchen.«

Leise lachen Cas und ich auf. Es wäre erfrischend, wenn unser Kind ganz nach ihrer Tante kommt.

»Bevor ich es vergesse … Clark hat für dich einen Brief, den ich geschrieben habe. Ich habe mich in den letzten Tagen schlau gemacht und herausgefunden, woher wir kommen. Falls du möchtest, kannst du dich gerne erkundigen und die Familie kennenlernen, die wir haben. Gib ihnen eine Gelegenheit sich zu erklären, auch wenn du wütend auf sie bist.«

Meine kleine Zwergmaus nickt, ehe sie aufschluchzt. »Ich liebe dich, Schwesterherz. Ich werde dich immer lieben.«

»Und ich liebe dich, Beanie. Vergiss mich nicht und ich freue mich auf den Tag, wenn wir uns wiedersehen. Ich würde es dir aber nicht übelnehmen, wenn du mich eine lange Zeit warten lässt.«

Langsam löst sich Cassidy von ihrer Schwester. Die roten Tränen benetzen ihre Wangen, als sie sich mir zuwendet. »Ich will mich bei dir bedanken. Danke für alles, was du für uns getan hast. Ich bin froh, dass ihr zwei euch gefunden habt. Pass auf dich und meine Schwester auf, Clark. Bis irgendwann.«

Jules rennt in meine Arme und wir beide starren auf den Punkt, wo sich Cas befindet. Sie öffnet die Tür, die ich nicht sehen kann. Sie wirft einen letzten Blick über die Schulter, ehe sie uns zuwinkt. Ihr Körper leuchtet wie ein funkelnder Diamant, bevor es sich langsam auflöst, bis sie ganz verschwindet.

»Sie ist weg«, murmle ich Jules ins Ohr und drücke sie fester an mich.

»Sie hat endlich Frieden gefunden. Und wir beide können endlich mit unserem Neuanfang beginnen.«

»Wann wolltest du es mir sagen?«

»Weiß ich nicht. Aber dieser Moment war perfekt dafür.«

Ein Moment, den wir nie vergessen werden.

Aber mit einer Sache hatte Cassidy recht. Sie wird immer bei uns sein.

Ich verdanke ihr genauso viel. Ohne diese kleine Nervensäge hätte ich den wertvollsten Menschen in meinen Leben niemals kennengelernt. Ich hätte nicht eine Familie gefunden, mit der ich so sein kann, wie ich bin. Und ich hätte mich nie so vollkommen und zufrieden gefühlt.

All das ist allein Cassidys Verdienst und das werde ich ihr niemals vergessen.

SeelentrösterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt