C L A R K
Zitternd sind meine Arme um Jules geschlungen und wiegen sie vor, als wäre sie noch ein Kind. Immer wieder murmle ich ihr tröstende Worte ins Ohr, während ich den Blick nicht von ihrer Schwester abwenden kann. Es tut mir im Herzen weh, sie beiden so zu sehen.
Völlig aufgelöst und am Boden zerstört.
Jules klammert sich an mich, schluchzt an meiner Brust, als würde sie innerlich etwas zerreißen. Zeitgleich bebt ihr Körper und am liebsten würde ich sie von hier wegbringen. Weg von dem Regen, der auf uns niederprasselt.
Aber würde es etwas bringen?
Meine Vermutung ist, dass dieses Unwetter von Cassidy ausgelöst wurde. Anstatt mit Wind um sich zu schlagen, hat sie es irgendwie geschafft ein Gewitter zu erzeugen. Denn als ich mich umgesehen habe, konnte ich weiter weg die Sonne sehen. Nur über uns schweben die dunklen Wolken, während der Regen unbarmherzig auf uns niederprasselt.
Aber was mir mehr Sorgen bereitet, ist, die rote Substanz, die ich schon einmal gesehen habe. Cassidys Wangen sind blutrot, während sie zusammengekauert neben ihrem Grabstein hockt. Völlig verloren hat sie ihre Arme um sich geschlungen und blickt ihre Schwester unentwegt an. Als würde sie sich die Schuld an dem Ganzen geben.
Aber das ist nicht wahr. Wir alle tragen einen Teil dazu bei.
Ich kann mir nicht ausmalen, was in ihnen vor sich geht. Wie sie sich fühlen müssen. Es ist eine schreckliche Tatsache, die sie endlich begreifen müssen, um loslassen zu können. Das war mitunter ein Grund, weshalb ich Cassidys Angebot ausgeschlagen habe. Denn ich wusste, dass wir an diesem Punkt ankommen werden. Dass der Weg abgeschnitten wird, sodass es unmöglich ist weiterzugehen.
Was kann ich aber sagen, damit es den beiden besser geht? Wie soll ich es in Worte fassen und ihnen den Trost spenden, den sie dringend brauchen? Ist es genug, dass ich einfach da bin?
Verdammt! Ich weiß es nicht.
»Ich verstehe es nicht, Clark«, fängt plötzlich Jules in meinen Armen anzureden. Die Schluchzer sind abgeklungen, jedoch sind ihre Wangen noch immer nass.
»Was genau?«, will ich wissen und streiche ihr sanft über den Rücken.
»Wie du nicht verrückt wirst. Wie du es geschafft hast, dich immer wieder von den Seelen zu verabschieden, ohne das du dabei trauerst oder sonst was.«
Tief seufze ich auf und schließe dabei meine Augen. Sie hat keine Ahnung, wovon sie redet. Außerdem hat sie ein kleines Detail vergessen.
»Das ist nicht das Gleiche, Zwergmaus. Ich kann sie zwar sehen und es entstehen viele Freundschaften, aber ich kannte sie nicht, als sie noch gelebt haben. Das ist ein Unterschied.«
Jules blickt mich an. Die Tränen schimmern wieder in ihren Augen. »Aber trotzdem lässt dich das irgendwie kalt. Oder zeigst du es einfach nicht?«
Ihre Frage trifft mich härter, als ich es gedacht habe. Ich habe mir schon gedacht, dass sie irgendwann nachbohren wird. Aber jetzt? Wie soll ich das sagen, ohne zu tief ins Detail zu gehen? Insbesondere, da es nicht gerade der richtige Zeitpunkt dafür ist. Ich will sie trösten und ihr nicht meine Geschichte erzählen, die alles andere als positiv ist.
»Es ist nicht so, dass es mir egal ist, Jules. Aber ich habe mich damit abgefunden, dass es eben so ist. Außerdem sitzen sie nicht mehr hier fest, was mich sehr für sie freut. Ein Leben in der Zwischenwelt ist bestimmt nicht so schön.«
Nachdenklich legt sie ihren Kopf schief. »Da ist was dran. Was glaubst du, was hält meine Schwester hier noch fest? Immerhin ist es bereits ein Jahr her, seit dem sie …«
Sie muss nicht zu Ende reden, denn ich weiß genau, was sie mir sagen will. Nicht zum ersten Mal stellt sie mir diese Frage. Am Anfang wusste ich die Antwort darauf nicht. Jetzt bin ich mir jedoch sicher, was Cas eigentlicher Wunsch ist. Sie hat ihn uns erst heute verraten.
»Du weißt es«, höre ich Cassidys Stimme, sodass ich mein Gesicht zu ihr wende. Sie sieht noch immer ihre Schwester an. Der Ausdruck in ihren Augen zerreißt mir das Herz. So viel Schmerz, der mich stocken, aufatmen lässt.
»Ich ahne es«, antworte ich auf beide Fragen. »Es hat alles mit dir zu tun. Ihr seid so stark miteinander verbunden, sodass nichts anderes Sinn ergeben würde.«
Jules richtet ebenfalls ihren Blick auf die Stelle, wo sich ihr Zwilling befindet. Auch wenn sie Cas nicht sehen kann, fixiert sie den Punkt und beißt sich nachdenklich auf die Lippen.
»Sie will, dass ich glücklich bin.«
»Und dafür musst du loslassen. Oder besser gesagt, ihr beide«, erwidere ich prompt und ernte von beiden einen verwirrten Blick.
»Ihr habt euch zu fest auf diese Situation eingelassen. Ihr könnt keinen Abschied nehmen, da ihr euch spürt und tief im Inneren Hoffnung habt, die sich bald in Luft auflösen muss. Noch nie hatte ich erlebt, dass ein Mensch, der die Seelen nicht sieht, die Anwesenheit fühlen kann. Das zeigt mir nur, wie nah ihr euch gestanden habt. Aber es ist Zeit, endlich loszulassen. Das gilt für euch beide.«
Ernst sehe ich beide abwechselnd an.
Plötzlich steht Cassidy auf. »Also bin ich schuld an diesem Schlamassel? Willst du das damit sagen?«
Unverzüglich schüttle ich den Kopf.
»Ich gebe hier niemandem die Schuld. Aber wir müssen endlich eine Lösung finden, damit ihr beide zu Ruhe kommt. Das kann so nicht mehr weitergehen. So schmerzhaft wie es sich auch anhört. Denn ihr verletzt euch so nur mehr.«
Meine Worte lösen unterschiedliche Reaktionen aus. Während Jules eher ruhig bleibt und darüber nachdenkt, fängt Cassidy an zu fluchen.
»Verdammte Scheiße!«
»Hör auf damit. Du verstehst mich völlig falsch. Ich will doch nur das beste für euch. Immerhin seid ihr beide mir wirklich sehr wichtig, weshalb es mich innerlich zerreißt, euch so zu sehen.«
Plötzlich löst sich Cas langsam auf. Ich weiß genau, was sie tut. Aber ich hätte es mir anders gewünscht. Denn anstatt mit uns zu reden, ergreift sie lieber die Flucht.
»Dieses Thema ist nicht beendet, Cas.«
»Für heute aber schon. Ich muss nachdenken und brauche Zeit für mich.«
»Wir werden zu Hause auf dich warten«, sagt Jules noch schnell, ehe sie weg ist und uns beide hier allein lässt.
Verdammt! So habe ich mir das nicht vorgestellt.
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Seelentröster
RomanceAlle denken, dass Clark Stevens ein normaler und sehr aufmerksamer Barkeeper ist. Wenn sie etwas auf dem Herzen haben, erzählen sie ihm ihre Geschichte, um die Last auf ihren Schultern für einen Moment verschwinden zu lassen. Nacht für Nacht hört de...