J U L E S
Meine Augen verfolgen die Bewegungen der älteren Dame, die ihre Hände kreisend um ihren Kristall schwingt. Das schummrige Kerzenlicht ist nicht gerade hilfreich, da ich sie fast nicht sehen kann. Skeptisch lehne ich mich nach hinten und warte darauf, was sie mir erzählen wird.
Vielleicht ist sie besser als ihr Vorgänger.
Zuria, wie sich die ältere Dame nennt, hat bisher keinen guten Eindruck hinterlassen. Die Kräuter, die hier überall liegen, die Kugeln und auch die Räucherstäbchen zeugen von irgendwelchem Wahrsager quatsch, jedoch stört mich das keineswegs. Es war meine eigene Entscheidung hierherzukommen, weil ich endlich Antworten auf meine Fragen will. Was mir eher missfällt, ist die Tatsache, dass sie noch kein Wort zu mir gesprochen hat. Sie hat die Augen geschlossen und summt vor sich hin.
Tief seufze ich auf, als ich mit meinen Händen auf den Tisch klopfe und überlege, ob ich von hier verschwinden sollte. Das wäre dann das achte Medium, dass ich von meiner Liste streichen kann und mir kein Stück weitergeholfen hat. Vielleicht wäre es besser, wenn ich einen Priester aufsuche, der mein Haus reinigt, oder wie immer das genannt wird, anstatt hier wertvolle Zeit zu verlieren.
»Ahum, ahum, ahum.«
Zweifelnd wandert meine Augenbraue in die Höhe. Das war wirklich eine schlechte Idee, aber was hätte ich tun sollen? Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Dinge in meinem Haus schweben. Und das nicht nur einmal. Vielleicht werde ich auch einfach verrückt, da mich der Tod meiner Zwillingsschwester aus der Bahn geworfen hat und mich in ein Loch hat stürzen lassen, aus dem ich mich nicht mehr befreien kann.
»Ahum, ahum, ahum.«
Das ist doch bescheuert! Entschlossen lege ich einen Zwanziger auf den Tisch und erhebe mich. Mehr kann das nicht kosten, wenn ich mir denke, dass sie mir nichts offenbart hat.
Kurz vor der Tür, die ich ansteuere, wird plötzlich alles dunkel. Die Kerzenlichter sind ausgegangen, Zuria hat aufgehört zu summen und ein beängstigendes Gefühl überkommt mich, das mir eine Gänsehaut verschafft. Augenblicklich halte ich inne, traue mich nicht einen weiteren Schritt zu machen und halte den Atem an.
»Ein Mann«, flüstert Zuria. »Ein Mann wird dir helfen können.«
»Ein Mann?«, wiederhole ich fragend ihre Worte. Aber so leise, dass es sogar ich fast nicht gehört hätte.
»Ein Mann«, bestätigt sie mir noch einmal, bevor sie ihre Augen aufschlägt und die Kerzen sich von allein wieder anzünden. Freundlich lächelt sie mich an, steckt den Geldschein in ihre Bluse und nickt zur Tür.
Was zur Hölle?
Das ist wohl mein Zeichen zu gehen. Und es gibt in diesem Moment nichts anderes, was ich lieber tun möchte. Ruckartig öffne ich die Tür, bevor ich mit zügigen Schritten die Treppe hinunterstürme. Dabei ignoriere ich all die Fackeln, die mich den Weg nach unten begleiten. Ein Schauer nach dem nächsten läuft mir den Rücken hinab und als ich endlich draußen bin, atme ich die frische Luft ein.
Was war das? Und über welchen Mann hat sie gesprochen?
Ich sollte die Liste wegwerfen, oder besser noch verbrennen. Kein Medium mehr. Einen Priester will ich jedoch auch nicht einbeziehen. Dann muss ich wohl eine neue Wohnung suchen, in der es nicht spukt.
Heilige Scheiße!
Was denke ich da? Bin ich wirklich schon so verrückt, dass ich das sogar glaube? Der Besuch hierher war mehr ein Akt der Verzweiflung. Nichts weiter. Am besten ich vergesse das Ganze und nehme mein Leben wieder in die Hand und tue so, als wäre das alles nie passiert. Vielleicht habe ich mir auch alles nur eingebildet. Ja, so muss es sein. Alles andere ist verrückt!
Meine Beine tragen mich auf die Hauptstraße, während ich noch immer in Gedanken versunken bin. Ich bemerke die anderen Menschen nicht, die mir über den Weg laufen.
Unbewusst streiche ich mir über die Narbe an meinem Arm, die ich von dem Unfall als Andenken bekommen habe. Die Bilder verfolgen mich jede Nacht. Und als wäre das nicht genug, verfolgen mich noch andere Dinge. Dinge, die ich nicht sehen oder mir erklären kann.
Mit einem Mal beginnt der Wind alle heruntergefallenen Blätter aufzuwirbeln, sodass ich mich zur Seite drehe und mein Gesicht schütze. Einen Moment bleibe ich so stehen, warte ab, bis sich alles wieder legt. Meine Augen kleben an den Fenstern, auf denen mit großer Schrift 'Happy Hour' steht.
Seit Jahren wohne ich hier und nie ist mir diese Bar aufgefallen. Ein komisches Gefühl breitet sich in meinem Bauch aus, während ich gleichzeitig den Drang verspüre hineinzugehen.
Neugierig linse ich ins Innere. Ein Mann steht hinter dem Tresen und poliert verschiedene Gläser. Seine Hüften bewegen sich im Takt, während die Locken auf seinem Kopf auf und ab springen. Dabei sind seine Lippen zu einem Lächeln verzogen, sodass seine weißen Zähne zum Vorschein kommen.
Unsicher beiße ich mir auf die Unterlippe. Dieses Gefühl macht mir ein wenig Angst, weshalb es besser wäre, wenn ich einfach weiterlaufen würde. Trotzdem bewege ich mich keinen Millimeter und der Wind macht es mir auch nicht einfach. Wie eine Wand versperrt er mir den Weg. Es wäre sicherer, wenn ich irgendwo hineingehen würde. Nicht, dass mir noch etwas auf den Kopf fällt.
Entschlossen richte ich mich auf und kämpfe mich durch die wehenden Herbstblätter hindurch. Sobald ich die Türklinke berühre, durchfährt mich ein Stromstoß, der meine Hand dazu veranlasst nach unten zu drücken. Mit einem Plumps stürze ich zu Boden, bevor es hinter mir knallt.
Verdammt! Was war das denn?
»Woah, Cas! Wieso so stürmisch heute? Geht es dir gut?«
Mit gerunzelter Stirn hebe ich mein Gesicht. Der Mann schaut mich aus besorgten Augen an, während er aber noch immer hinter dem Tresen steht und keine Anstalten macht mir zu helfen.
»Wie wäre es, wenn du mir aufhelfen würdest?«
Verdutzt blickt er mich an. »Wie soll ich dir helfen, wenn ich dich nicht berühren kann, Cassidy. Hast du dir denn Kopf angestoßen oder so?«
Moment mal. Wie hat er mich gerade genannt? Das Blut rauscht in meinen Ohren, als ich ihn verständnislos anstarre. Kann der Tag noch schlimmer werden?
»Ich …«, kurz räuspere ich mich, da ich durch den Kloß in meinem Hals keinen Satz sagen kann. »Wie hast du mich gerade genannt?«
Seine Augen weiten sich, als er neben sich blickt und langsam seinen Kopf wieder in meine Richtung dreht.
»Verfluchte Scheiße! Ihr seht genau gleich aus!«
Dieser Satz würde mich eigentlich nicht stören. Und doch weiß ich nicht genau, was ich dazu sagen soll.
»Sie ist deine Schwester? Verdammt, Cas! Wieso ist sie hier?«
Mit wem spricht er? Wie es aussieht verfolgt mich mein Pech auch weiterhin. Wie kann es sein, dass ich ausgerechnet in eine Bar lande, die einem weiteren Verrückten gehört?
Das kann alles nur ein schlechter Scherz sein. Und ein mieser noch dazu. Eilig richte ich mich auf. Ich muss hier weg, nur erstarre ich ein weiteres Mal, als ich seine nächsten Worte höre.
»Du bist Jules?«
Woher kennt er meinen Namen?
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Seelentröster
RomanceAlle denken, dass Clark Stevens ein normaler und sehr aufmerksamer Barkeeper ist. Wenn sie etwas auf dem Herzen haben, erzählen sie ihm ihre Geschichte, um die Last auf ihren Schultern für einen Moment verschwinden zu lassen. Nacht für Nacht hört de...