C L A R K
Starr blicke ich auf das Glas Whiskey in meiner Hand. Leicht schwenke ich die Flüssigkeit auf die eine Seite und denke über den heutigen Tag nach. Jules liegt neben mir auf der Couch und schläft. Sie ist emotional total erschöpft, weshalb ich froh war, als sie endlich ein wenig Ruhe gefunden hat. Das war ein harter Tag für sie.
Von Cas fehlt bisher jedoch jede Spur. Sie ist noch nicht aufgetaucht. Da mich ihre Flucht nicht loslässt und ich mir Sorgen mache, habe ich mich dazu entschieden zu warten. Auch wenn es bedeutet, die ganze Nacht wach zu bleiben und böse Geister heraufzubeschwören.
Die Bar habe ich heute extra geschlossen, um für die beiden da zu sein. Ich hätte mich auch nicht konzentrieren können, weil ich zu sehr involviert bin und ich mich schlecht fühle. Vielleicht hätte ich es nicht sagen sollen, aber dieses Mal war mein Mund schneller als mein Verstand.
War ich zu hart? Hätte ich es besser formulieren können? Oder hätte ich im Endeffekt gar nichts sagen sollen?
Verdammt nochmal! Ich bin ein totaler Idiot!
»Du bist noch wach«, höre ich Cas plötzlich sagen, sodass ich zusammenzucke. Ich war so tief in meinen Gedanken versunken, dass ich nichts um mich herum wahrgenommen habe.
»Ich habe auf dich gewartet«, lasse ich sie wissen, sehe sie aber noch nicht an, da ich mich nicht traue. Viel mehr starre ich weiterhin auf das Glas in meinen Händen.
»Es tut mir leid«, entschuldige ich mich. »Ich hätte mich nicht einmischen dürfen.«
»Du hattest aber recht«, erwidert sie leise, weshalb ich meinen Kopf hebe und in ihr trauriges Gesicht blicke. »Jules und ich müssen wirklich loslassen. Aber es ist so verdammt schwer es zu tun. Wie soll ich aber ohne meine Schwester überleben? Sie ist alles, was ich je hatte.«
»Das müsst ihr herausfinden. Das habe ich auch getan, als ich jemanden verloren habe.«
Plötzlich spüre ich eine Hand, die sich leicht auf meinen Oberschenkel legt. Mein Blick wandert zu Jules, die mich blinzelnd und schockiert anschaut. Durch meine Stimme ist sie erwacht. Ich hätte leiser sein müssen, da sie noch immer erschöpft ist.
»Was sagst du da?«, murmelt sie schlaftrunken, ehe sie sich aufrichtet.
Auch Cassidys Augen weiten sich bei meinen Worten. Mit einer solchen Aussage haben sie nicht gerechnet. Wie auch? Nie habe ich sie mit einer Silbe erwähnt. Aber wie es aussieht, ist es Zeit es ihnen zu erzählen, damit sie mich und auch ihre Situation besser verstehen können. Ich kann nicht weiterhin den Mund halten, weil es viel zu viele Parallelen gibt, die mich an damals erinnern.
»Es gibt einen Grund, weshalb ich deinen Vorschlag abgelehnt habe, Cas. Denn ich weiß, wie es ist, wenn man mit einem geliebten Menschen kommuniziert, der tot ist und nie wieder zurückkommt.«
Mit einem großen Schluck leere ich das Glas. Leicht schüttelt es mich, als der Alkohol meinen Rachen hinabfließt und ein brennendes Gefühl dabei entsteht. Aber das habe ich gerade gebraucht. Ein wenig Mut antrinken, bevor ich mich nackt zeige. So nackt wie mich noch niemand gesehen hat.
»Ich hatte früher eine Freundin«, fange ich an. »Nora und ich waren seit dem College ein Paar. Es war eine turbulente Beziehung, die mich sehr viele Nerven gekostet hat, aber die ich in keiner Sekunde bereue. Nachdem ich meine Bar eröffnet habe, fühlte sie sich sehr vernachlässigt«, fahre ich fort, ehe ich mich aufrichte.
Die Zwillinge hören mir aufmerksam zu. Sie sagen kein Wort, warten ab, bis ich bereit bin weiterzuerzählen.
In meinem Inneren tobt ein Sturm. Noch nie habe ich diese Geschichte jemandem erzählt. Wer hätte mir Glauben geschenkt? Niemand. Eher hätte man mich in die Klapse gesteckt und an meinem Verstand gezweifelt.
»Nach einem heftigen Streit hat sie sich in ihr Auto gesetzt, auch wenn ich auf sie eingeredet habe, dass wir es klären sollen. Leider wollte sie nicht auf mich hören«, murmle ich leise und schüttle den Kopf, da Bilder vor meinem inneren Auge auftauchen, die ich jahrelang verdrängt habe.
Das Auto, das gegen den Baum gefahren ist. Noras leblosen Körper in einem Sarg, während sie mich als Geist anschreit, nichts dagegen unternommen zu haben. Die verurteilenden Blicke, die sie mir zugeworfen hat, als wäre ich an allem schuld. Es war die Hölle und trotzdem habe ich die Frau weiterhin geliebt und habe mich an sie geklammert, als wäre sie mein rettender Anker.
»Ich bin ihr hinterhergefahren, habe mitansehen müssen, wie der Wagen gegen einen Baum fährt. Habe mitbekommen, wie sich ihre Seele von ihrem Körper getrennt hat und habe mit ihr geweint, während sie um sich geschlagen hat.«
Die Details erspare ich den beiden. Ich will nicht über das ganze Blut, über den schmerzverzerrten Schrei oder auch über die Tatsache reden, dass sie es mit Absicht getan hat. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich es auch nicht, aber nach einem weiteren Streit hat es Nora mir an den Kopf geknallt. Deswegen sieht sie mich auch als den Schuldigen an, während sie das Opfer ist.
Heute weiß ich, dass es nicht stimmt. Aber damals habe ich mir sehr viele Vorwürfe gemacht und alles getan, worum sie mich gebeten hat, um es irgendwie wiedergutzumachen.
»Zwei Jahre hat es gedauert, bis ich an dem Punkt angekommen bin, dass unsere Geisterbeziehung nicht gesund ist. Also musste eine Lösung her, damit sie endlich auf die andere Seite wandern kann. Aber da wir uns beide so sehr aneinander gewöhnt haben, war es schwierig. Insbesondere für sie war es nicht einfach, mich und ihr altes Leben loszulassen.«
Tief seufze ich auf und versuche die Tränen zu unterdrücken, die sich angekündigt haben. Die Erinnerungen an Nora verpassen mir jedes Mal einen Stich im Herzen. Es hat mich fast in die Knie gezwungen, ehe ich mich losreißen konnte und mein Leben leben musste. Auch wenn es bedeutet hat, es ohne sie zu tun.
»Oh Gott, Clark. Das tut mir furchtbar leid«, sagt Jules mitfühlend, während Tränen in ihren Augen schimmern.
»Wie habt ihr das geschafft?«, höre ich einen Moment später Cassidy fragen. »Ich meine, es tut mir unendlich leid für euch, Clark. Sowas ist echt schrecklich und ich denke, du verstehst unsere Situation mehr, als du uns anfangs hast wissen lassen. Aber wie sollen wir das tun?«
Auch wenn Cas eher herzlos herüberkommt, da sie nicht auf komplett auf meine Worte eingeht, bin ich ihr dankbar. Sie muss bemerkt haben, dass es für mich zu schmerzhaft ist, darüber zu reden und dass ich auch nicht alles erzählen möchte.
Ich zucke mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Monatelang habe ich Nora ignoriert, ehe sie irgendwann verschwunden ist. Aber ob ihr dasselbe tun sollt, ist euch überlassen. Vielleicht fällt euch was anderes ein, ohne diesen drastischen Schritt machen zu müssen.«
Beide nicken mir zustimmend zu.
»Lass uns darüber nachdenken, bevor wir eine Entscheidung treffen«, schlägt Jules vor.
Das ist eine gute Idee. Sie sollen nichts überstürzen. Und vor allem werde ich nicht dazwischen funken. Das ist allein ihre Sache. Ich bin nur für sie da und werde ihnen beistehen. Mehr nicht.
»Dann lass uns mal einen Plan aushecken. Sag meiner Schwester, dass wir Stift und Papier brauchen.«
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Seelentröster
RomanceAlle denken, dass Clark Stevens ein normaler und sehr aufmerksamer Barkeeper ist. Wenn sie etwas auf dem Herzen haben, erzählen sie ihm ihre Geschichte, um die Last auf ihren Schultern für einen Moment verschwinden zu lassen. Nacht für Nacht hört de...