6 | Erwachen

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C L A R K

»Das hat richtig gut funktioniert«, gebe ich sarkastisch von mir, nachdem ich Jules in ihr Bett gelegt und sie zugedeckt habe.

Genau aus solchen Gründen habe ich jedes Mal die Angebote ausgeschlagen, die ich am Anfang bekommen habe. Es läuft immer auf das Gleiche hinaus und ich kann es den Leuten nicht verübeln. Niemand würde auf die Idee kommen, dass die verlorenen Seelen hier auf der Welt verweilen und es sogar Menschen gibt, die sie sehen.

Mein Blick wandert zu ihrer Zwillingsschwester. Es ist immer noch verblüffend für mich, wie ähnlich die beiden sind. Nur an den Iriden kann ich einen kleinen Unterschied erkennen. Und den habe ich nur bemerkt, als ich Jules tief in die Augen geschaut habe. Während in Cas ein tiefer und dunkler Ozean wütet, der mir jegliche Emotionen preisgibt, sehe ich bei ihrer Schwester einen Sturm, der in ihr tobt.

Cassidy schaut mich bloß schulterzuckend an und winkt mit der Hand ab.

»Sie wird wieder gesund. Das ist nur der Schock.«

Verärgert schnaube ich auf und hebe meine Hände in die Luft. »Nur der Schock? Ich glaube nicht, dass dir der Ernst der Lage bewusst ist, Cassidy. Wieso war sie überhaupt in meiner Bar?«

Eine Röte breitet sich auf ihren Wangen aus, sodass ich zuerst meine Stirn in Falten lege, bevor ich meine Augen zusammenkneife. Das ist nicht ihr Ernst, oder?

»Sag mir nicht, dass du sie zu mir geführt hast, nachdem ich dein Angebot abgelehnt habe.«

»Ähm … nein?«

Wütend fahre ich mir durch die Haare. »Verdammt Cassidy! Was hast du dir nur dabei gedacht?«

Ihre Stimmung kippt ebenfalls, was in an dem Funkeln ihrer Augen erkennen kann. »Tut mir leid, dass ich ein letztes Mal mit meiner Zwillingsschwester reden wollte. Du hast doch keine Ahnung, wie das ist, wenn man jemanden verliert, der einem so richtig nahe war.«

»Du hast keine Ahnung, Cas! Also stell keine Vermutungen an, ohne meine ganze Geschichte zu kennen!«

Schwer atme ich ein und drehe mich von ihr weg. Ich brauche dringend Abstand von dieser Frau, bevor ich noch Dinge sage, die ich später bereuen werde.

»Ich bin im Wohnzimmer und werde das Chaos beseitigen.«

Ohne sie weiter zu beachten, marschiere ich aus dem Raum. Sobald ich den katastrophalen Zustand erblicke, bricht ein kalter Schweiß in meinem Nacken aus.

War sich Cas nicht bewusst, dass ihr Plan wirklich böse hätte Enden können? Ich will gar nicht wissen, was passiert wäre, wenn ich nicht da gewesen wäre. Wer hätte sie beruhigen können?

Wahllos öffne ich die Schränke und hoffe irgendwo einen Besen zu finden. Zum Glück hatte sich Jules nicht verletzt, als ihre Schwester den Gefühlsausbruch hatte. Wie leichtsinnig Cas gehandelt hat. Ich kann nur hoffen, dass sie daraus gelernt hat und merkt, wie dumm das war.

Es gibt nämlich einen Grund, wieso ich ihr Angebot abgelehnt habe. Aber den werde ich ihr nicht erzählen, weil es sie nichts angeht.

Gedankenversunken räume ich alles auf. Ich werfe alles weg, dass kaputtgegangen ist. Stelle alles wieder auf, damit Jules es später nicht machen muss. Als ich die Scherben aufsammle, springt mir etwas ins Auge. Langsam beuge ich mich herunter und nehme das Foto in die Hand, was mir ein kleines Schmunzeln entlockt.

»Das war an unserem Abschluss«, höre ich Cassidy hinter mir.

»Ihr seht glücklich darauf aus«, merke ich leise an.

Beide strahlen um die Wette, während sie sich ansehen und die Baretts in die Höhe halten. Cas streckt die Zunge dabei heraus, derweil Jules ihren Mund weit geöffnet hat und sehr wahrscheinlich laut lacht. Ihre dunklen schulterlangen Haare, die mich an eine schwarze Nacht erinnern, stehen in allen Richtungen ab. Jules trägt sie heute noch in dieser Länge, jedoch hat ihre Schwester sie kurz geschnitten.

»Das waren wir auch«, kommentiert sie und lächelt dabei traurig. »Weißt du, wir sind im Waisenhaus aufgewachsen und hatten niemanden außer uns beide. Das hat uns zusammengeschweißt, Clark. Noch mehr als sonst schon.«

Tief atmet sie ein und schließt für einen kurzen Moment die Augen. »Jules war schon immer mein Vorbild, da sie immer alles geschafft hat, was sie sich vorgenommen hat. Ich war der Rebell und habe die Scheiße abgezogen, aus der sie mich immer retten musste.«

Das kann ich mir denken. Ich kenne Cassidy jetzt seit einer Woche und schon jetzt musste ich sie aus brenzligen Situationen retten.

»Wie eine verantwortungsvolle, große Schwester.«

»Dabei bin ich zwanzig Minuten älter.«

Meine Augen mustern nochmals kurz das Bild in meinen Händen, bevor ich es auf das Regal lege und mich zu Cas umdrehe. Bevor ich jedoch etwas sagen kann, kommt sie mir zuvor und macht einen Schritt auf mich zu.

»Danke, Clark. Ich weiß, dass es nicht okay von mir war, auf eigene Faust zu handeln, aber ich wusste nicht, wie ich dich sonst dazu kriege, mit ihr zu sprechen. Es tut mir leid.«

Die Aufrichtigkeit ist in jedem Wort zu spüren. Cas meint es vollkommen ernst.

»So wie du gerade ausschaust, hat sich meine Schwester bei dir entschuldigt?«

Ich zucke zusammen, bevor ich mich zur Seite drehe und Jules erblicke, die sich gegen das Treppengeländer lehnt und die Arme vor der Brust verschränkt hat.

»Ich wollte dich nicht erschrecken.«

Müde fahre ich mit den Händen über mein Gesicht. »Schon okay. Ich denke, das habt ihr was gemeinsam.«

Cas lacht leise auf, während Jules mich mit gerunzelter Stirn mustert.

»Können wir reden?«, frage ich hoffnungsvoll nach und deute mit dem Finger auf das Sofa.

»Ich denke, dass schulde ich dir, nachdem du hier aufgeräumt hast. Danke dafür.« Jules steigt die letzten Treppen hinab und hebt auffordernd die Augenbrauen. »Außerdem habe ich ebenfalls Fragen, die du mir bestimmt beantworten kannst.«

Da bin ich mir nicht so sicher. Alles weiß ich nicht, aber ich werde versuchen so gut wie möglich sie aufzuklären.

Sobald wir uns gesetzt haben, kommt ein Tablett zu uns geflogen, mit einer Kanne Tee und zwei Tassen darauf. Jules quiekt erschrocken auf, bevor sie ihre Hand auf ihre Brust legt und einen tiefen Atemzug nimmt. Der Geruch von exotischen Früchten steigt mir in die Nase. Cas zuckt nur unschuldig mit den Schultern.

»Ich dachte, dass euch ein warmes Getränk guttun würde.«

»Danke, Cas.«

Jules schaut ebenfalls in die Richtung, wo sich ihre Schwester befindet und lächelt dabei. »Das wird also ein langes Gespräch?«

»Was meinst du?«, hake ich verwirrt nach.

»Cassidy und ich haben grünen Tee nur getrunken, wenn wir über etwas Wichtiges gesprochen haben. Und das ging meistens ein wenig länger, deshalb auch das Getränk.«

Da könnte sie nicht Unrecht haben. Ich habe ebenfalls das Gefühl, dass wir die ganze Nacht hier sitzen werden.

»Wir werden sehen. Also fang an, Jules. Was genau möchtest du wissen?«

SeelentrösterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt