13 | Sturm

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J U L E S

Habt ihr euch schon mal die Frage gestellt, was das alles soll? Wieso wir auf der Erde sind und uns das alles antun müssen? Was hat sich das Universum gedacht, als es uns erschaffen hat? Sind wir Spielfiguren oder existieren wir wirklich? Ist alles, was wir tun, real oder nur eine Illusion?

Früher habe ich mich wenig damit beschäftigt, aber seit dem mich meine Zwillingsschwester verlassen hat, veränderte sich alles. Meine Denkweise, meine Einstellung und auch ich selbst.

Dieser Schmerz, der mich in die Knie zwingt, ist etwas, dass ich niemanden wünsche. Alles in mir schreit, weint und blutet. Alles ist zerbrochen. Die Scherben schneiden in mein Fleisch, verursachen Wunden, die niemand sehen kann. Die niemand sehen will. Und die brennen, als würde man Feuer mit Öl löschen wollen.

Vor einigen Tagen dachte ich, dass ich endlich jemanden gefunden habe, der alles in mir sehen kann. Der mit einem Blick erkennt, was in meinem Inneren vor sich geht. Ich dachte, dass er all die zerbrochenen Teile wieder zusammenflicken kann. Er hat mit viel Gefühl und Geduld begonnen, die Scherben an den richtigen Platz zu setzen. Zwar sind die Risse immer noch da und werden bestimmt auch bleiben, nur der Schmerz hat sich ein wenig zurückgezogen.

Aber es wäre doch zu einfach, wenn ich mich einfach auf einen Menschen verlassen kann, der das wieder geradebiegt, oder? Es ist nicht seine Aufgabe, das zu erledigen, sondern meine. Aber wie soll ich das tun, wenn mich ein Datum so sehr aus der Bahn wirft, sodass die Wunden wieder aufreißen und mich innerlich verbluten lassen?

Ich frage mich, ob es irgendwann besser wird. Aber wäre das kein Verrat an Cassidy? Wenn ich mein Leben weiterlebe, dass ihr verwehrt wurde? Dass ich glücklich bin, während sie viel zu früh sterben musste?

Unbewusst wische ich die Tränen weg, die unaufhörlich meine Wangen hinunterkullern. Mein Blick ist fest auf den Stein vor mir gerichtet, während ich auf dem nassen Boden hocke. Meine Augen mustern prüfend die Inschrift, die mir mit jeder Sekunde, die vergeht, ein Messer in die Brust rammt.

»Wieso, Cassidy? Wieso musstest du mir das Wertvollste in meinem Leben nehmen?«

Auch wenn es regnet und die dunklen Wolken meine Stimmung widerspiegeln, spüre ich einen leichten Windhauch, der sich sanft um meinen Körper schmiegt, als würde mich jemand umarmen wollen, um mir Trost zu spenden.

»Was hat sie dir getan, dass du ihr Leben nehmen musstest?«, schreie ich schmerzerfüllt auf, ehe ich eine Sekunde später schluchzend mein Gesicht in den Händen vergrabe.

»Wieso hast du nicht mich genommen? Cassidy hätte gewusst, was sie jetzt tun sollte. Sie hätte …« Meine Stimme bricht, während ich versuche, tief Luft zu holen.

Plötzlich spüre ich Hände, die mich in eine feste Umarmung schließen. Augenblicklich wehre ich mich dagegen, auch wenn ich weiß, wem sie gehören. Der Duft, der in meine Nase steigt, ist unverkennbar. Ich versuche sie von mir zu schieben, jedoch ist der zu Griff stark für mich.

»Ich bin es, Jules. Ich bin endlich da.«

Meine Hände schlagen um sich, versuchen sich zu befreien, da ich dem Schmerz nicht entkommen kann. Er soll verschwinden und sich von mir fernhalten, bevor ich ihn mit in den Abgrund ziehe, der immer näher kommt.

»Lass mich«, murmle ich und schlage ihm wiederholt auf die Brust. »Lass mich einfach allein.« Nichts anderes habe ich verdient.

»Nein. Ich werde dich bestimmt nicht allein lassen.«

Meine Muskeln krampfen sich bei dem kläglichen Versuch zusammen. Der Drang, ihn vor diesem bodenlosen Fall zu schützen, ist größer. Auch wenn ich nicht weiß, wie lange ich noch durchhalten kann.

»Wieso bist du so stur? Ich will dich nicht hier haben, Clark!« Eine Lüge, aber es ist vielleicht besser so.

Wie konnte ich so dumm sein und denken, dass ich glücklich werden kann? Dass ich es verdient habe, nach allem, was passiert ist. Insbesondere, da ich fast diesen Tag vergessen hätte. Was für eine Schwester bin ich, wenn mir der Todestag meiner besseren Hälfte entfällt?

»Hör auf, Jules. Ich werde nicht gehen, egal, was du mir sagst.«

»Du kannst nicht alle retten«, murmle ich leise und schüttle dabei den Kopf. »Vor allem mich nicht.«

Plötzlich löst er sich ein Stück von mir und hebt mit einer Hand mein Kinn hoch, damit wir uns in die Augen sehen können. Schniefend wische ich mir über das Gesicht, auch wenn die Tränen nicht aufhören wollen zu fließen.

»Ich bin da und werde dich auffangen, Zwergmaus. Und du darfst dir nicht die Schuld geben, denn das ist nicht wahr.«

Sanft streicht er mir über die Wange, weshalb ich die Augen schließe. Ich kann ihn in diesem Moment nicht ansehen. Außerdem muss ich einen erbärmlichen Anblick bieten.

»Habe keine Angst und lass alles raus. Schrei oder schlag um dich. Ich werde alles aushalten und das mit dir zusammen durchstehen«, fügt er noch hinzu, ehe er mich wieder fest an sich drückt.

Kraftlos lasse ich es geschehen und schluchze auf. Ich lasse den Schmerz die Überhand gewinnen. Lasse mich von der Dunkelheit einlullen, während der Regen uns durchnässt. Aber das ist mir egal. Als würde der Himmel mit mir weinen, weil wir einen geliebten Menschen verloren haben.

Heute ist ein trostloser Tag, der mich wieder zurückkatapultiert in eine Zeit, von der ich dachte, dass ich sie hinter mir habe. Von der ich geflüchtet bin.

»Ich hätte den Tag fast vergessen. Als ich lächelnd auf den Kalender geschaut habe, bin ich fast auf den Boden gefallen. Wie konnte mir das passieren?«

Meine Arme schlingen sich ebenfalls um seinen Torso, während er mir zuhört und nichts darauf erwidert.

»Cassidy ist tot und ich lebe einfach weiter, als wäre nie etwas gewesen. Das macht mich zu der schlechtesten Schwester, die es auf dieser Welt gibt.«

Auch wenn sie als Geist noch hier verweilt, kann ich die Tatsache nicht ignorieren, dass ihr Körper hier begraben ist. Dass ich sie nie wiedersehen werde oder mit ihr sprechen kann. Was nützt es mir, wenn ich sie nicht umarmen oder ihren Duft einatmen kann, der mich an mein zu Hause erinnert. Wenn ich keine Chance mehr habe, sie lächeln zu sehen?

Und was passiert, sobald sich ihr Wunsch erfüllt? Ein weiterer schmerzvoller Abschied wird mich noch komplett zerstören.

»Du bist die beste Schwester, die ich haben konnte, Beanie. Du darfst niemals etwas anderes denken. Und ich würde mich freuen, dich wieder glücklich zu sehen, auch wenn ich nicht mehr da bin. Das ist es, was ich will, Beanie. Ich will, dass du glücklich bist.«

Verwirrt hebe ich meinen Kopf und blicke in Clarks Gesicht.

»Cas steht gleich neben dir. Sie wollte dich das wissen lassen.«

Und mit diesen Worten brechen noch alle anderen Dämme, die ich krampfhaft versucht habe zu unterdrücken.

Schluchzend breche ich in seinen Armen zusammen und schreie den Schmerz aus meinen Lungen, bis ich keine Stimme mehr habe.

Ich kann das nicht ohne Cassidy.

Ich brauche meine große Schwester mehr als jemals zuvor.

Wieso ist das Universum nur so grausam?

SeelentrösterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt