16 | erste Schritte

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J U L E S

Unsicher beiße ich mir auf die Lippen, als ich die Broschüre in den Händen halte, die ich heute bei der Selbsthilfegruppe bekommen habe. Konzentriert lese ich die Zeilen immer wieder, während Clark uns in der Küche etwas zum Essen zubereitet. Er war so nett und hat mir es angeboten, damit wir noch ein wenig Zeit miteinander verbringen können, ehe er losmuss.

»Willst du mir erzählen, wie es heute war?«, höre ich ihn rufen.

»Es war gut. Ich konnte mich ein wenig mehr öffnen und wir haben jemanden neues in der Gruppe.«

»Das ist toll. Das freut mich sehr für dich, Jules.«

Er guckt schnell zu mir ins Wohnzimmer und runzelt die Stirn. »Was hast du da?«

»Kira, die am Empfang arbeitet, hat mir von der Maltherapie erzählt und da wurde ich neugierig.«

Ich habe schon viel davon gehört, nur dachte ich nicht, dass es zu mir passen könnte, weil ich keine künstlerischen Fähigkeiten besitze. Kira hat aber ausdrücklich erwähnt, dass es nicht darum geht, sondern, um eine intensive Auseinandersetzung mit sich selbst auf der Suche nach dem inneren Gleichgewicht. Also habe ich sie nach einem Kurs gefragt und sie hat mir begeistert die Broschüre in die Hand gedrückt.

»Malen kann Wunder bewirken. Diese Methode ist wirksam und sehr emotional.«

Verwundert, dass er das weiß, stehe ich auf und nähere mich dem duftenden Raum. Basilikum, Olivenöl, wie auch Rosmarin strömt durch meine Sinne, sodass mir das Wasser im Mund zusammenläuft.

»Wieso kennst du dich damit so gut aus?«

Sanft schließe ich meine Arme um seinen Torso und schmiege mein Gesicht an seinem Rücken.

»Ich habe mich mit allem möglichen auseinandergesetzt, nachdem Nora gestorben ist.«

Seine Muskeln spannen sich an, als er ihren Namen erwähnt. Er redet nicht oft über sie und ich kann mir denken, dass er mir auch nicht alles erzählt hat, aber das ist okay. Irgendwann wird er es tun und dann bin ich da und höre ihm zu. Wie er für mich da gewesen ist.

»Und wofür hast du dich entschieden?«

»Für die Schreibtherapie. Ich habe hunderte von Tagebüchern geschrieben und mich wöchentlich mit meinen Therapeuten getroffen.«

Langsam dreht er sich zu mir um und legt seine Hände an meine Wange. Sofort schließe ich meine Augen, ehe er mir einen leichten Kuss auf die Stirn haucht.

»Probier es aus. Es wird dir guttun und ich bin überzeugt, dass es klappen könnte. Du musst dich nur komplett darauf einlassen.«

Ich nicke. »Natürlich. Ich mache morgen gleich einen ersten Beratungstermin aus.«

»Das ist toll. Und Cas freut sich ebenfalls für dich.«

Sobald er ihren Namen erwähnt, treten Tränen in meine Augen. Seitdem wir uns einen Plan ausgedacht haben, spüre ich sie weniger. Meine Schwester distanziert sich leicht von mir und kommuniziert nur noch über Clark mit mir. Auch verschwindet sie manchmal für einige Tage und sagt nichts. Ich weiß, dass es das richtige ist, aber trotzdem schmerzt es mich, dass wir uns so gegenüber verhalten. Das waren wir nie und darauf war ich immer so verdammt stolz.

»Hat sie dir gesagt, wo sie letzte Woche war?«

Er schüttelt mit dem Kopf. »Sie wird es uns aber irgendwann erzählen.«

»Okay. Ich hoffe nur, dass es ihr gut geht.«

Ein leichtes Lächeln umspielt seine Lippen, ehe er mir einen weiteren Kuss gibt, aber dieses Mal auf den Mund. »Natürlich. Und jetzt lass und essen, Zwergmaus. Die Kartoffeln und der Braten sind endlich fertig«, sagt er, nachdem die Küchenuhr geklingelt hat.

Sofort hole ich die Teller aus dem Schrank, das Besteck und zwei Gläser und balanciere damit ins Wohnzimmer zurück. Clark folgt mir mit dem Essen und zusammen setzen wir uns an den Tisch.

»Du hast bald Geburtstag«, sagt er, nachdem er meinen Teller gefüllt hat und ihn mir überreicht. Perplex verschlucke ich mich am Getränk. Mit diesem Themawechsel habe ich nicht gerechnet.

»Ja, und ich würde ihn gerne nicht feiern.«

Nur der Gedanke daran stimmt mich wieder traurig. Das war eher Cassidys Ding. Ich habe nie den Gedanken daran verstanden. Wieso feiert man die Tatsache, ein weiteres Jahr auf dieser Welt zu sein?

»Wieso nicht?«, will er mit geweiteten Augen wissen. »Du wirst dreißig. Das müssen wir doch feiern!«

»Ich werde alt, ja. Danke für die Erinnerung. Und nein, müssen wir nicht.«

»Was ist das für eine bescheuerte Aussage? Gibt es denn nichts, was du gerne tun würdest?«

Er lässt einfach nicht locker. Aber wenn ich darüber nachdenke, weiß ich auch gar nicht, was ich gerne tun würde. »Nein, eigentlich nicht.«

Nachdenklich nehme ich eine Kartoffel in den Mund und kaue, während ich über seine Frage nachdenke. Früher wollte ich mal wissen, woher ich stamme. Wieso ich in ein Waisenhaus abgegeben wurde. Aber das ist lange her.

Plötzlich kommt mir ein Gedanke in den Sinn. In der Highschool hatten wir eine Spezialwoche und es wurde ein Ausflug geplant. Leider konnte ich nicht daran teilnehmen, weil ich krank wurde. Ich habe mich und meinen Körper verflucht, weil es etwas war, dass ich gerne gesehen hätte.

»Ich will das Meer sehen.«

»Wie bitte?«, hakt Clark mit vollem Mund nach.

»Können wir an meinem Geburtstag ans Meer fahren? Noch nie habe ich es gesehen.«

Wie konnte ich das nur vergessen? Hat mich der Alltag so sehr eingeholt, dass ich meine Wünsche in eine Schublade gesteckt habe?

»Dann werde ich mir etwas einfallen lassen, Zwergmaus. Das Meer in ein Stück entfernt. Aber ich kriege das hin. Versprochen.«

Dankend lächle ich ihn an. Auch wenn ich das Universum verfluche, hat es eine Sache richtig gemacht. Dieser Mann ist Goldwert. Einfühlsam, aufrichtig und perfekt für mich. Als würden wir uns schon seit Jahren kennen, so sehr fühle ich mich mit ihm verbunden.

Aus dem Grund bin ich unschlüssig. Nie haben wir gesagt, in welcher Beziehung wir zueinander stehen. Wir küssen uns hin und wieder und verbringen die meiste Zeit miteinander. Wir führen Gespräche über Gott und die Welt und er ist immer für mich da.

Sind wir ein Paar?

Denn wenn ich ehrlich bin, hatte ich noch nie eine solche Beziehung zu einem Mann. Klar, ich bin keine Jungfrau mehr und habe mich auch mit anderen Männern getroffen. Nur war das eher ein Zeitvertreib.

Gott, ich bin so schlecht in diesen Dingen. Soll ich ihn einfach fragen?

»Was geht dir durch den Kopf, Jules?«

Ich kratze meinen ganzen Mut zusammen, während meine Wangen glühen. Ach, scheiß darauf. Ich kann das.

»Was sind wir, Clark?«

SeelentrösterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt