12 | erste Gewitterwolken

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C L A R K

Mit einer Schüssel Popcorn und Limo habe ich es mir auf dem Sofa gemütlich gemacht. Im Fernseher läuft eine Komödie, auf die ich mich nicht sonderlich konzentrieren kann. Meine Gedanken kreisen die ganze Zeit und eine innere Unruhe macht sich langsam bemerkbar. Und ich weiß nicht, was ich davon halten sollte.

Ahnt mein Bauchgefühl etwas oder bilde ich mir das nur ein?

Außerdem fühlt es sich komisch an, hier allein zu sein. Seit Cassidy sich hier einquartiert hat, ist alles anders. Es ist ein schrecklicher Vergleich, aber sie hat so viel Leben in meinem Zuhause eingehaucht, sodass ich mich überall umsehe, ob sie vielleicht auftaucht. So ganz plötzlich und ohne Vorwarnung, wie sie es immer tut.

Zudem bin ich eher abgelenkt. Immer wieder gleitet mein Blick zu meinem Smartphone und jedes Mal seufze ich enttäuscht auf, da keine Nachricht aufploppt. Nicht nur von Cas fehlt jede Spur, sondern auch Jules hat sich den ganzen Tag nicht bei mir gemeldet.

Habe ich irgendetwas verpasst? Oder nicht mitbekommen?

Angestrengt denke ich darüber nach, während ich nach den Snacks greife. Ich lasse die letzten Wochen Revue passieren. Nie habe ich ein Anzeichen bemerkt. Jules war glücklich, hat mich die ganze Zeit angestrahlt. Egal worüber wir gesprochen haben. Es waren tiefgründige Gespräche dabei, aber auch witzige Neckereien, ohne die wir nicht können.

Wenn sie etwas bedrückt hat, erzählte sie es mir. Und doch beschleicht mich ein Gefühl, dass ich dieses Rätsel vor mir nicht lösen kann, weil mir ein entscheidendes Detail fehlt.

Verdammt!

Was soll ich tun?

Zu ihr fahren? Aber was ist, wenn ich mir das nur alles einbilde? Ist es vielleicht nur die Angst, dass sich das Ganze nochmals wiederholt? Nein, daran darf ich gar nicht denken! Jules ist nicht wie sie. Ganz und gar nicht. Solche Gedanken muss ich mir sofort aus dem Kopf schlagen, ehe sie sich wie ein bösartiges Gift in meinem Hirn manifestieren.

Scheiße!

Bevor mich die Vergangenheit einholt, stehe ich entschlossen auf und greife nach meinem Schlüssel. Das Popcorn verteilt sich auf dem Boden, als die Schlüssel mit einem klirrenden Geräusch auf dem Boden aufprallt. Ich habe total vergessen, dass ich sie in den Händen halte, so tief war ich in meinen Gedanken versunken.

»Verdammte Scheiße!«, fluche ich vor mich hin, denke aber nicht daran, es sofort aufzuräumen. Das kann ich auch tun, sobald ich wieder zu Hause bin und ich endlich weiß, was mit den beiden Schwestern los ist.

Mit schnellen Schritten verlasse ich mein Haus und steuere den Wagen an. Ruckartig reiße ich die Tür auf, steige ein und starte den Motor. Mein Herz hämmert brutal gegen meine Brust, als ich den Rückwärtsgang einlege.

Immer wieder murmle ich mir zu, dass ich übertreibe. Das nichts passiert ist und doch versucht mich ein inneres Gefühl vom Gegenteil zu überzeugen. Ein Gefühl, das bisher immer recht hatte. Und genau das jagt mir eine Heidenangst ein.

»Jetzt fahr schon!«, rede ich mit dem Fahrer, der vor mir den Wagen lenkt und einer Schnecke starke Konkurrenz macht.

Während ich versuche mich auf den Verkehr zu fokussieren, fängt plötzlich mein Handy an zu surren. Ohne auf das Display zu blicken, nehme ich den Anruf entgegen.

»Jules! Bist du das?«

»Nein, hier ist Mike. Was ist denn los?«

Enttäuscht schlage ich einmal auf das Lenkrad, ehe ich das Smartphone wieder an mein Ohr halte. »Ich kann gerade nicht, Kumpel. Ich melde mich später bei dir.«

Ohne auf eine Antwort abzuwarten, kappe ich die Verbindung und wähle die Nummer von Jules. Sofort geht die Mailbox an, sodass ich das kleine Elektroteil auf den Beifahrersitz werfe.

Tief atme ich ein, versuche mich zu beruhigen. Mache ich hier gerade einen Fehler? Nein, oder? Besser ich vergewissere mich, dass alles gut ist. Es muss alles gut sein.

Sobald ich vor ihrem Wohnblock bin, halte ich am Straßenrand an und steige aus. Um schneller zu sein, nehme ich mehrere Treppenstufen auf einmal. Vor der Eingangstür bleibe ich stehen und drücke den Knopf der Klingel.

Einmal. Zweimal. Dreimal.

Kein surrendes Geräusch ertönt, niemand meldet sich an der Freisprechanlage. Als wäre Jules nicht zu Hause.

Viermal. Fünfmal. Sechsmal.

Wo ist sie nur?

Der Bücherladen hat bereits geschlossen, also fällt diese Option weg. Ob sie bei der Selbsthilfegruppe ist?

»Wen suchen Sie, junger Mann?«, erklingt eine tiefe rauchige Stimme hinter mir, sodass ich mich erschrocken umdrehe.

Eine ältere Dame schaut mir prüfend ins Gesicht. Mit ihrem Hut, dem viel zu weitem Hosenanzug und der knallbunten Handtasche gibt sie ein spezielles Bild ab. Ein kleiner Paradiesvogel, da auch die Kopfbedeckung in einem sonnengelb erstrahlt.

»Guten Abend, die Dame. Ich suche nach meiner Freundin Jules Harrison.«

Es kann nicht schaden, ihr meinen Grund zu verraten, auch wenn es sie überhaupt nichts angeht. Aber vielleicht weiß sie etwas, was für mich nützlich sein könnte.

Sofort weicht der strenge Ausdruck aus ihrem Gesicht. Das ist jedoch kein gutes Zeichen, da ich Traurigkeit in ihren Augen erkennen kann.

Ist etwas passiert?

»Die arme Jules. Sie ist wirklich ein tolles Mädchen und hat das alles nicht verdient. Beide nicht. So tragisch, was damals geschehen ist.«

Redet sie über den Unfall?

»Das ist es wirklich. Cas und Jules waren unzertrennlich«, stimme ich ihr zu.

»Oh ja! Die beiden gab es nur im Doppelpack, richtig süß muss ich sagen. Und wie zuvorkommend sie waren. Aber seitdem hat Jules sich verändert. Sie hat echt gelitten und wenn ich daran denke, wie schnell die Zeit vergeht, … es ist genau ein Jahr her, können Sie das glauben?«

Was hat sie gerade gesagt?

Nein, oder?

Verdammte Scheiße! Mein Bauchgefühl hatte recht. Aber wieso hat sie mich nicht angerufen? Ich hätte für sie da sein können und ihr in dieser Zeit beistehen können. Wie die letzten Monate auch.

»Ich muss los. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag«, verabschiede ich mich, ehe ich die Treppen hinunterstürme.

Ich weiß genau, wo sich Jules befindet. Wo sie sich in diesem Moment aufhält. Denn die alte Dame hat mir den entscheidenden Hinweis gegeben. Das ist der Grund, weshalb Cas verschwunden ist und Jules sich nicht bei mir gemeldet hat.

Denn heute ist Cassidys Todestag und sie besucht bestimmt ihre Zwillingsschwester auf dem Friedhof.

Verdammt! Ich muss sofort zu ihr.

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