J U L E S
Außer Atem hieve ich mich hoch und lasse mich einen Moment später auf den Boden fallen. Tief atme ich ein und versuche meinen Körper ein wenig zu beruhigen. Meine Brust bewegt sich schnell, meine Lungen verlangen nach Luft und in diesem Moment verfluche ich Clark für seinen Einfall.
Wer kommt auch auf die Idee auf einem Dach ein Date zu organisieren?
Gäbe es ein Treppenhaus würde ich nichts sagen, aber mit der Leiter hier hochzuklettern ist echt nicht ohne. Um ehrlich zu sein, die Hölle für mich.
»Bist du schon aus der Puste?«, hakt er amüsiert nach und kniet sich neben mir hin.
Während ich nicht mehr kann und es einmal mehr offensichtlich ist, wie wenig Sport ich treibe, sieht Clark aus, als hätte er einen Spaziergang gemacht.
»Treibst du in deiner Freizeit Sport oder so?«, stelle ich ihn eine Gegenfrage, nachdem ich die Augen geschlossen habe.
»Manchmal jogge ich durch den Park, aber sonst nichts.«
»Sonst nichts? Würde ich das tun, könnte man mich vom Boden aufkratzen.«
Leise lacht er auf. »Übertreib es nicht, Jules.«
Wie bitte? Ich soll es nicht übertreiben? Er ist doch nicht blind und sieht doch, was nur eine Leiter mit mir angestellt hat.
»Aber es hat sich gelohnt, findest du nicht auch?«
Konfus blinzle ich einige Male schnell hintereinander, ehe ich ihn mit einer Furche zwischen meinen Augenbrauen anblicke. Sein Finger deutet auf die rechte Seite, sodass ich langsam meinen Kopf drehe.
Mein Mund öffnet sich leicht, als ich die Kulisse wahrnehme, die mir die Sprache verschlägt. Wir befinden uns auf dem kleinen Hügel auf dem Hochhaus, sodass die anderen Gebäude klein erscheinen. Die vereinzelten Lichter geben einen wunderschönen Anblick. Zudem scheint der Mond und die Sterne auf sie hinab und verleihen dem Bild einen magischen Touch. Der Wald, im hinteren Teil der Stadt, wirkt dunkel und mysteriös, fast schon geisterhaft.
»Wow«, flüstere ich erstaunt und nehme den Blick nicht von dem Ausblick.
»Ja, es ist wunderschön hier«, kommentiert er ebenfalls, ehe er die Tasche auspackt und unser Essen hervorholt.
»Woher kennst du diesen Ort?«, hake ich neugierig nach und schnappe mir mein Getränk.
»Das ist eine lange Geschichte«, weicht er aus, sodass ich ihn ansehe, während er mit den Schultern zuckt.
Innerlich schlage ich mir auf die Stirn. Ich hätte nicht gedacht, dass eine simple Frage die Stimmung verändern kann.
»Ich habe Zeit, wie du siehst. Und man hat mir gesagt, dass ich eine gute Zuhörerin bin«, mache ich ihm ein Angebot.
Auf keinen Fall möchte ich ihn zu etwas drängen. Aber Clark sollte wissen, dass ich für ihn da bin, wenn er eine Schulter zum Anlehnen braucht. Ich werde ihm zuhören, egal, wie lange es dauert. Auch wenn er es nicht so sieht, will ich ihm etwas zurückgeben. Nicht, weil ich mich schuldig fühle, sondern weil er mir in dieser Zeit sehr an Herz gewachsen ist. Außerdem bekomme ich durch ihn die Chance, mich von meiner Schwester richtig verabschieden zu können. Und das ist etwas, dass ich Clark niemals vergessen könnte.
Zweifelnd blickt er mich an. In seinen Augen sehe ich den Kampf, den er mit sich selbst führt. Aus diesem Grund lege ich vorsichtig meine Hand auf sein Knie und drücke leicht zu.
»Es muss nicht sofort sein. Ich will nur, dass du weißt, dass du es kannst. Das Angebot steht und du darfst jederzeit darauf zurückgreifen.«
Ein kleines Lächeln umspielt seine Lippen, ehe er mir zunickt. »Danke, Jules.«
»Erzähl mir etwas über dich, Clark. Was tust du so, wenn deine Bar geschlossen ist?«, wechsle ich das Thema und nehme meinen Burger in die Hand. Da sich mein Körper endlich beruhigt hat von dieser Monsterleiter, meldet sich nun mein Magen.
Das wirklich lecker duftende Essen lässt meinen Bauch noch zusätzlich Knurren. Außerdem will ich endlich von dieser Spezialität kosten.
»Eigentlich gibt es nicht viel zu erzählen«, fängt er an, ehe er einen Bissen nimmt und nachdenklich seine Stirn in Falten legt. »Ich lebe für die Bar und die Seelen. Möchte ihnen den Aufenthalt hier so angenehm wie möglich machen, bevor sie weiterziehen.«
»Was ist aber mit dir, Clark? Gibt es nichts, was du für dich tust? Ich meine, ich finde es klasse, dass du dich um sie kümmerst, wirklich. Aber vergiss dich dabei nicht.«
»So bin ich aber. Ich liebe es anderen zu helfen und das genügt mir. Was ist mit dir? Was macht dich aus?«
Mein Mund öffnet sich, ehe ich in eine Sekunde wieder schließe. Irgendwie wirft mich die Frage leicht aus der Bahn. Früher hätte ich sie sofort beantworten können. Aber, seit dem meine Schwester nicht mehr da ist, hat sich alles verändert. Zwar funktioniere ich, jedoch ist diese Lebensfreude, die ich gespürt habe, nicht mehr da.
»Ähm …«
»Keine einfache Frage, was?«
Nein, ganz und gar nicht. Wenn ich mich an die Zeit erinnere, wo Cassidy noch gelebt hat und sie mit der jetzigen vergleiche, sind das zwei Welten. Als wäre ich ein komplett anderer Mensch.
Früher war ich viel draußen, ging aus und habe mich amüsiert. Heute findet man mich auch unter Menschen, auch wenn das eher Selbsthilfegruppen sind. Trotzdem ist es anders.
»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht«, gebe ich nach einem stillen Moment zu.
»Wie meinst du das?«, will er wissen und legt sein Essen weg, ehe er mich neugierig ansieht.
»Na ja, Cassidy und mich gab es immer im Doppelpack. Wir haben alles miteinander unternommen. Ich habe auf sie aufgepasst, so gut ich konnte und sie hat mich in den Wahnsinn getrieben. Aber seitdem sie …«, zittrig atme ich ein und unterbreche mich kurz, da es noch immer schwer für mich ist, es laut auszusprechen. »Nicht mehr da ist, hat sich mein Leben verändert und ich weiß nicht genau, wer ich ohne meine Schwester bin.«
Mitfühlend schaut er mich an und rückt ein Stück näher an mich heran. Sein Arm legt sich um meine Schulter, sodass ich automatisch meinen Kopf an ihn lehne.
»Und das ist okay, Jules. Wir werden das zusammen herausfinden. Aber soll ich dir was sagen?«, ohne auf meine Antwort abzuwarten, fährt er fort. »Du bist einer der stärksten Menschen, die ich kenne. Du hattest niemanden außer Cas und trotzdem stehst du jeden Tag auf und machst etwas aus deinem Leben. Aber eines solltest du wissen. Du bist nicht mehr allein. Vergiss das nicht.«
Tränen sammeln sich in meinen Augen, die ich nicht aufhalten kann oder will. Unbemerkt kullern sie meine Wange herunter.
»Danke, Clark. Das bedeutet mir viel.«
Auch wenn ich diesen Mann erst seit einigen Wochen kenne, tut es gut zu wissen, dass ich nicht einsam auf dieser Welt bin. Dass ich jemanden habe, der mir zuhört und mich ernst nimmt, egal was aus meinem Mund kommt. Und auch wenn es für viele unvorstellbar ist, dass ich so nach einer kurzen Zeit empfinde, fühlt es sich richtig an.
Irgendetwas ist zwischen uns. Und das uns meine Schwester zusammengeführt hat, muss ein Zeichen sein.
Aber heute will ich nicht darüber nachdenken, sondern mich auf den Abend konzentrieren, den ich mit ihm verbringen darf.
Also nehme ich den Burger wieder in die Hand. Clark tut es mir gleich. Schweigend vertilgen wir unser Essen, bis mir die Jalapeños aus den Fingern fallen. Mit großen Augen und vorgeschobenen Lippen blicke ich auf mein Essen, als wäre ich ein kleines Kind.
Plötzlich fängt er neben mir an zu lachen. Er lacht so laut, sodass ich nicht anders kann und ebenfalls in Gelächter ausbreche, ehe wir einige Minuten verstummen und uns anlächeln.
Zusammen genießen wir den Ausblick und den Moment zwischen uns, der einen besonderen Platz in meinem Herzen bekommen hat.
Alles andere kann warten.
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Seelentröster
RomanceAlle denken, dass Clark Stevens ein normaler und sehr aufmerksamer Barkeeper ist. Wenn sie etwas auf dem Herzen haben, erzählen sie ihm ihre Geschichte, um die Last auf ihren Schultern für einen Moment verschwinden zu lassen. Nacht für Nacht hört de...