5. Kapitel- Morgendliche Unruhe

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Der Sonntagmorgen startete wie gewohnt mit schallender Musik aus dem Zimmer meines Bruders. Mit dem Unterschied, dass es heute schon um sechs Uhr klang, als würde eine Hausparty im Nebenraum steigen. Ziemlich genervt und mit dröhnenden Ohren schleppte ich mich aus dem Bett um meinem Bruder mal ordentlich die Leviten zu lesen, denn nur weil er seit ein paar Jahren zum totalen Frühaufsteher mutiert war, hieß das noch lange nicht, dass die ganze Familie es ihm gleich tuen müsse. Noch dazu könnte heute mein letzter Tag für die nächsten Monate sein, an dem ich ausschlafen konnte, da morgen mein erstes Semester am College beginnen würde.

Zu meiner Verwunderung stellte ich fest, dass Aidens Zimmertür heute ausnahmsweise geschlossen war und ein Blick durchs Schlüsselloch verriet mir, dass von innen sogar ein Tuch davor hing. Natürlich sah mein verklärter morgendlicher Verstand dies nicht als Hinweis, draußen zu bleiben und demnach fiel ich buchstäblich mit der Tür ins Haus.

Warum war ich nicht einfach im Bett geblieben?

Im Zimmer meines Bruders - also nun direkt vor meinen Augen - spielte sich ein Schauspiel der besonderen Art ab, welches vermutlich so schnell nicht mehr aus meinem Kopf verschwinden würde.

Auf dem Bett, welches mit dem Kopfende an der Wand stand und seitlich so in den Raum ragte, dass ich direkt darauf zu lief, lag ein junger Mann im Alter meines Bruders.
Nicht, dass das etwas verwerfliches gewesen wäre. Aber die Tatsache, dass er splitterfasernackt auf dem Bauch lag, alle Viere von sich gestreckt, und sich von Aiden die Handgelenke mit Krawatten am Bettpfosten befestigen ließ, forderte mich quasi dazu auf, mit weit aufgerissen Augen den Boden zu bitten sich unter mir aufzutun.

Auf der Suche nach der Antwort auf die Frage, warum ich überhaupt hier war, scannte ich das helle Laminat ab, bis ich einen vorsichtigen Blick auf meinen Bruder warf. Der erschrockene Gesichtsausdruck Aidens war wohl im Vergleich zu meinem puterroten Kopf gar nichts. Doch im Gegensatz zu mir fing mein Bruder sich schnell wieder und legte dem anderen Typen, als wäre es das normalste der Welt, eine Decke über den Körper.

„Avery kann ich dir irgendwie helfen?" Ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, dafür aber sichtlich genervt ging er weiter seiner Tätigkeit nach und zog die Krawatten fest als wäre es das Normalste der Welt. Nun möglicherweise war es das auch, aber mir war es mehr als unangenehm meinen Bruder und seinen - wie es mir schien - neuen Liebhaber in dieser intimen Situation zu stören.

„Wenn es zu fest ist sag es mir bitte. Du sollst möglichst entspannt dabei sein."
Wobei hätte ich fast reflexartig gefragt, zum Glück konnte ich mich gerade noch rechtzeitig dazu besinnen, dass ich das eigentlich auf gar keinen Fall wissen wollte. Voller Scham sah ich zu wie Aiden liebevoll die Wange seines Gegenübers tätschelte und fühlte mich so fehl am Platz wie vermutlich noch nie in meinem ganzen Leben. Und das hieß schon was! Denn ich fühlte mich ständig fehl am Platz.

„Alles gut", säuselte der Typ während er mir grinsend zu zwinkerte. Anscheinend war ihm die ganze Situation alles andere als unangenehm und dabei war er hier doch derjenige der ohne Kleidung in einer sehr entwürdigenden Postion auf dem Bett meines Bruders lag. Aiden wandte sich wieder an mich und zog fragend die Augenbrauen nach oben. Seine braunen Haare standen vom Schlafen noch wüster ab als sie es ohnehin taten und seelenruhig ging er zu einer seiner Staffeleien hinüber und schnappte sich einen Bleistift. Bei jedem Schritt schliff seine rot, blau karierte Pyjamahose über den Boden, was kein Wunder war, wenn man beachtete wie weit unten er sie auf den Hüften trug.

Obwohl der Sommer in San Francisco die Sonne für dieses Jahr noch nicht komplett aus seiner Obhut entlassen hatte, hob sich Aidens blasse Haut nur leicht von seinem weißen T-Shirt ab und verlieh ihm so eine kränkliche Erscheinung. Wenn man wusste wie selten Aiden sich an der frischen Luft aufhielt, war dies jedoch auch kein Wunder. Tag ein Tag aus verbrachte er in in seinem Atelier - solange er nicht in der Uni war -, welches er sich in der Wohnung unserer verstorbenen Großmutter eingerichtete hatte. Obwohl von einer Einrichtung nicht die Rede sein konnte. Durcheinander standen dort Staffeleien, Mal- und Zeichenutensilien, Stoffe und Farben herum und die einzigen Möbelstücke welche auf einen Bewohner schließen ließen waren eine durchgelegene Matratze und ein kleiner Kühlschrank. Die früher mal hellrosa Tapete war inzwischen vergilbt und blätterte an einigen Stellen bereits ab. Das sich dort noch kein Schimmel ausbreitete war ein einziges Phänomen. Aiden jedoch schien sich dort so wohl zu fühlen, dass er sich oft tagelang nicht zuhause blicken ließ und seine Zeit lieber dort verbrachte.

The Silent Side of LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt