7. Kapitel - Erster Tag

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„Oh mein Gott", ein spitzer Schrei direkt neben meinem Ohr riss mich - mal wieder - unsanft aus einem tiefen, erholsamen Schlaf. Konnte man in diesem Haus denn nicht einmal behutsam und liebevoll geweckt werden? Vielleicht indem jemand sanfte Klangschalen-Klänge spielte und mir dabei sanft über die Wange strich? Nein, das war wohl unmöglich.

„Avery, steh auf! Wir müssen in einer Stunde auf dem Campus sein! Los steh auf du Schlafmütze! Oh mein Gott, was soll ich bloß anziehen? Was willst du anziehen Avery? Ist deine Mutter zu Hause? Meinst du, sie leiht mir was? Sie hat doch so viele Klamotten! Avery! Jetzt steh endlich auf!" Hatte sie zwischendurch überhaupt mal Luft geholt? Während mein Gehirn noch damit beschäftigt war, all diese Informationen in die dazugehörige Schublade zu stecken, zog ich mir gähnend die Decke über den Kopf, um Rubys Geschrei ein wenig zu dämpfen. Doch leider konnte ich sie weiterhin vor sich hin brabbelnd das Zimmer auf der Suche nach Klamotten durchqueren hören. Ohne Vorwarnung riss sie mir plötzlich die Decke weg und pfefferte sie in die nächst beste Ecke.

Sie schnappte nach meinen Beinen und zog mich mit einem Ruck aus dem Bett.
„Ruby, sag mal spinnst du?" Fuhr ich sie an und rieb mir die Schulter, welche hart auf dem Boden aufgeschlagen war.
„Oh sorry, das wollte ich nicht. Aber los los los Avery!" Auffordernd klatschte sie in die Hände.
Hinter meinen geschlossenen Lidern verdrehte ich betont dramatisch die Augen, entschloss jedoch, dass ich gegen Rubys brodelnde Mischung aus Enthusiasmus, Angst und Nervosität sowieso keine Chance hatte. Also rappelte ich mich auf, schnappte mir Rubys Handgelenk und zog sie mit in die Küche, wo meine Eltern bereits gemütlich am Frühstückstisch saßen. Mein Dad hatte seine Nase in der Zeitung vergraben, während Mum sich ein weiteres Brötchen mit Marmelade bestrich und dabei versuchte die Schlagzeilen auf dem Zeitungsrücken zu entziffern.
„Mum, kannst du Ruby bitte was zum Anziehen raussuchen?" Ich gab Ruby einen Schubs in die Richtung meiner Mutter, welche, wie Ruby eben begeistert in die Hände klatschte und aufsprang, als hätte sie den ganzen Morgen auf diese Aufgabe gewartet.
„Dir auch mein Schatz?" „Nein. Nein, ich denke, ich finde schon selbst was." Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange und verkroch mich im Bad, um mit einer warmen Dusche erst mal langsam in den Tag zu starten.

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Eine Dreiviertel Stunde später stand eine schick gekleidete Ruby neben mir.
„Deine Mum hat echt so Hammer Klamotten, wieso ziehst du so selten welche an?"
Unauffällig musterte ich Rubys oder besser gesagt Mums Overall und räusperte mich:
"Nun weißt du, ich laufe einfach nicht so gerne in Showoutfits in der Öffentlichkeit herum." Ruby zuckte mit den Schultern, ehe sie sich einmal schnell um die eigene Achse drehte. Anscheinend fühlte sie sich in dem knallroten, noch dazu hautengen Overall pudelwohl. Ein Lächeln, welches Selbstsicherheit und Nervosität wiederspiegelte, umspielte Rubys Lippen und sie hakte ihre Daumen in den glitzernden Gürtel um ihre Taille ein. Es stimmte, meine Mum hatte etliche Kleidungsstücke und sie waren durch die Bank weg, alle schön. Jedoch waren sie in erster Linie für Bühnen - oder Fernsehauftritte gedacht und demnach meiner Meinung nach nicht für den Alltag geeignet.
„Es würde dir aber auch nicht schaden, mal etwas mehr aufzufallen", grummelte Ruby und hakte sich bei mir unter. Zum zweiten Mal an diesem Tag verdrehte ich die Augen, ließ mich aber schweigend von Ruby mitziehen. Es stimmte nun mal, Ruby war der auffällige, stets gut aussehende Schwan, während ich eher mit einem grauen Mäuschen oder besser noch, dem hässlichen Entlein zu vergleichen war.
Das Einführungsseminar für die Erstsemester verlief schleppend und die angekündigten Prüfungen und Anforderungen brachten meinen Kopf schon jetzt zum Qualmen. Wer hätte gedacht, dass man bereits zu Beginn des Semester zig verschiedene Prüfungstermine und Anforderungen für die nächsten drei Jahre um die Ohren geworfen bekam? Wenn ich nicht bereits seit meinem 9. Lebensjahr wüsste, dass ich unbedingt Choreographie und Musikwissenschaften studieren wollte, hätte ich vermutlich bereits jetzt den Kopf in den Sand gesteckt.

-⁕-

Erschöpft ließ ich mich auf dem Campus auf einer Bank im Schatten einer hohen Eiche nieder und holte zum ersten Mal an diesem Tag tief Luft.
Ruby hatte sich bereit erklärt, uns am Campus-Kiosk Kaffee und eine Kleinigkeit zu Essen zu holen. Ich war unendlich dankbar, die schwierige Anfangsphase nicht allein bewältigen zu müssen, sondern mit Ruby an meiner Seite.

Träge ließ ich meinen Blick über das rege Treiben auf dem Campus wandern. Studenten hetzten von einem Gebäude zum anderen, um noch pünktlich zu ihrer Vorlesung zu erscheinen, während andere sich gemütlich auf der großen Wiese sonnten oder an Tischen unter bunten Sonnenschirmen saßen, sich unterhielten und lachten.
Die große Wiese wurde von einem steinernen Weg eingezäunt an welchem die drei Hauptgebäude grenzten. Eines für alle wissenschaftlichen Fächer, eines für Kreative und das andere beinhaltete zwei große Turnhallen im Erdgeschoss und darüber vereinzelt noch einige Vorlesungsräume. Im letzteren würde ich die meisten meiner Unitage verbringen. Den Weg säumten etliche bunte Wegweiser, die von verzweifelten Erstsemestern auf der Suche nach dem richtigen Raum misstrauisch beäugt wurden. Lächelnd ließ ich den Kopf in den Nacken fallen und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf meiner nackten Haut. Obwohl es bereits Mitte September war schien die Sonne in San Francisco noch warm und strahlend vom Himmel herab und ich war froh, mich am Morgen für eine kurze Jeans und ein schlichtes weißes T- Shirt entschieden zu haben.
Eine leichte Brise wehte durch die vielen Bäume und ließ die bereits rötlich gefärbten Blätter rascheln. Ich schnappte Gesprächsfetzen auf welche mich teils leise kichern, teils innerlich die Augen verdrehen ließen. Ein blondes Mädchen, welches es sich mit ihren Freundinnen auf einer Decke auf dem Rasen gemütlich gemacht hatte und Kirschen aß, berichtete aufgeregt, den „heißesten Professor" entlang der gesamten Westküste ergattert zu haben. Ihre Freundinnen, bestehend aus einem Mädchen mit langen braunen Haaren und einem anderen mit kugelrunden blauen Augen, schienen sichtlich begeistert und versteckten ihr erregtes Quietschen hinter vorgehaltenen Händen.

Von irgendwoher drang ein leises Gitarrenspiel an meine Ohren und ich musste mich nicht lange umsehen, um den Verursacher dieser Melodie zu entdecken.
Unter einer der unzähligen Eichen Bäume saß ein junger Mann mit einer dunkelbraunen Akustik Gitarre im Arm. Die Blätter des Baumes waren bereits orangerot verfärbt und schmückten den Baum wie ein farbenfrohes Kleid.
Der Typ darunter trug ein dunkelrot kariertes Flanellhemd, welches mich sofort an meinen Großvater erinnerte. Die Ärmel hatte er lässig hochgekrempelt, weshalb die Tattoos an seinem rechten Arm zu sehen waren. Bunte Motive zierten seinen Arm und verschwanden unter dem groben Stoff seines Hemds. Er schaute konzentriert auf seine Finger, welche von Ringen geschmückt waren und nacheinander an den zarten Saiten der Gitarre zupften. Dabei war sein Blick gesenkt, doch trotzdem schien er mir vertraut. Die bunten Tattoos, die breiten Schultern und ... die geflochtenen Haare. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Dies war der Junge aus dem Geschäft, in dem Ruby ihr Kleid gekauft hatte. Der Freund von dem Jungen mit den strahlend blauen Augen. In meinem Kopf auch besser bekannt als der skrupellose Sofadieb. Ich spürte ein warmes, kribbelndes Gefühl in meiner Magengegend heranwachsen und sah mich reflexartig nach dem anderen Jungen um. Zu meinem Bedauern war er nirgends zu sehen. Innerlich rügte ich mich für das Verhalten meines Körpers. Es gab viele Colleges in der Stadt. Außerdem konnte es auch gut sein, dass er gar nicht studierte. Es wäre also ein wahres Wunder, wenn ich ihm ausgerechnet am ersten Tag an meinem College begegnen würde. Oder wenn ich ihm überhaupt jemals wieder begegnen würde.

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Hallo Ihr Lieben,

in diesem Kapitel betreten wir endlich das College von San Francisco und somit beginnt für Avery ein spannender neuer Lebensabschnitt.

Was haltet ihr von Rubys Outfit? Fallt ihr selbst gerne auf oder setzt ihr lieber auf den sportlichen, entspannten Look wie Avery?

Konntet ihr euch die Atmosphäre und die Umgebung des Campus gut vorstellen?

Lasst es mich gerne in den Kommentaren wissen :)

Bis zum nächsten Mal,

Carla <3





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