9. Kapitel - Was bildest du dir ein?

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Zögerlich ging ich ein paar Schritte rückwärts, um im Schatten der Hauswand Zuflucht zu finden.
Ich wusste nicht, wie lange ich dort stand, doch als mit einem Mal laute Rufe vom Pool an mein Ohr drangen, die alle aufforderten, sich auszuziehen, sah ich dies als den richtigen Zeitpunkt, um das Innere des Hauses unter die Lupe zu nehmen. Das Letzte, was ich von der feiernden Meute sah, waren fliegende Kleidungsstücke bevor ich mich in einem komplett weiß möbliertem Wohnzimmer wiederfand.

Ob betrunken oder noch auf dem Weg dahin, der Alkoholgeruch übermannte mich sobald ich die Balkontür öffnete und eintrat. Ich hielt Ausschau nach Kenny, doch ich hätte genauso gut nach der Nadel im Heuhaufen suchen können, denn auch hier herrschte das reinste Chaos. Auf dem weißen Teppich, von dem ich vermutete, dass er aus echtem Tierhaar gewebt war, sah ich unzählige Bier und Weinflecken und natürlich Abdrücke von dreckigen Schuhen. Überall standen, saßen oder lagen Menschen herum. Das ebenfalls weiße Sofa war notdürftig mit Folie bedeckt, doch diese war bereits an einigen Stellen eingerissen.

Vorsichtig machte ich einen Schritt vor den anderen, um mit meinen weißen Converse nicht in eine Alkoholpfütze zu tappen. In meinem Outfit, welches aus einfachen Jeans, weißem T- Shirt und Jeansjacke bestand, fühlte ich mich zwar ein wenig zu lässig und sportlich bekleidet, beruhigte mich aber mit dem Gedanken, dass die meisten sich hier sowieso nicht für mich interessierten, da sie entweder zu alkoholisiert waren oder mich einfach nicht wahrnahmen. Also eigentlich alles wie immer.

In der Küche, wo ich Kenny vermutet hatte, fand ich nur ein knutschendes Pärchen vor, weshalb ich schnell wieder den Rückweg einschlug. Mein Herz klopfte unangenehm laut in meiner Brust und sandte ein Pochen in meinen Kopf. Immer wieder schaute ich auf mein Handy, welches ich fest umklammert hielt, um meine Unsicherheit und den Fakt, dass ich ganz allein war zu kaschieren.

Kenny war ein großer, schlaksiger Typ mit orangenrötlichen Haaren und dutzenden von Sommersprossen auf der Nase. Sein Gesicht war schmal, wodurch seine Wangenknochen scharf hervorstachen. Auf der Nase trug er eine eckige Brille mit transparentem Gestell, und als ich ihn das letzte Mal sah, trug er eine dunkelblaue Cordjacke, welche perfekt mit seinen Augen harmonierte. Allein wegen seiner beachtlichen Größe von fast zwei Metern hätte er mir in der Menge eigentlich sofort auffallen müssen.

Statt Kenny sah ich jedoch ein anderes mir nur zu bekanntes Gesicht. Meine beste Freundin saß auf dem Sofa zwischen Craig und einem Jungen mit bunten Tattoos auf dem rechten Arm. Der Gitarren Junge aka der Sofadieb. Dieser setzte grade seine Bierflasche an den Mund, was Ruby mit einem schrillen: "Auf Ex!" quittierte.

Der tätowierte Typ grinste in seine Flasche hinein und zog diese binnen weniger Sekunden leer. Dass ich nur zwei Meter neben ihr stand, schien Ruby gar nicht zu bemerken. Langsam wurde ich sauer. Wieso hatte sie mich denn überhaupt mit hier her geschleppt, wenn sie mich sowieso allein lassen würde?

Sie wusste genau, dass ich mich unwohl fühlte, ganz allein unter fremden Menschen.
Doch wie durch ein Wunder schien sie mich plötzlich zu bemerken, denn im gleichen Tonfall wie eben quietschte sie nun:" Ave! Da bist du ja. Komm zu uns."

Sie rutschte noch näher zu Craig, wenn das überhaupt möglich war, und klopfte auffordernd auf die 15 cm des Sofas, die durch diese Aktion frei geworden waren.
Unmerklich schüttelte ich den Kopf und zog reflexartig meine Jacke wieder enger um mich.
„Stell dich nicht so an. Dein süßer kleiner Hintern wird hier schon noch zwischen passen."
Nachdem ich immer noch nicht reagierte, stieß sie ein genervtes Seufzen aus und schmiss sich kurzerhand auf Craigs' Schoß.
„Jetzt hab dich mal nicht so. Es wird dir auch nicht schaden, mal ein paar soziale Kontakte zu knüpfen oder willst du für immer Single bleiben?"
Sie war betrunken, das wurde mir in dem Moment klar, als ihre rauen Worte in meinem Kopf ankamen, sie nur dumm kicherte und ihr Gesicht in Craigs' Halsbeuge verbarg. Auch wenn das für mich nicht als Entschuldigung für ihr Verhalten zählte, versuchte ich mich innerlich zu beruhigen, um nicht vor all meinen Kommilitonen zu weinen. Sie sollten mich lieber gar nicht in Erinnerung behalten, statt als das Mädchen, das auf einer Party in Tränen ausbrach. Rubys Worte trafen mich hart, denn niemand kannte mich besser als sie. Niemand wusste so gut wie sie, dass es für mich zu den schwersten Dingen der Welt gehörte Kontakte zu knüpfen oder mich überhaupt mal jemandem zu öffnen. Wenn ich es tat, dann musste ich meinem Gegenüber entweder vertrauen oder ihn schon eine ganze Weile kennen. Niemand in diesem Raum kannte mich auch nur annähernd. Für die meisten war ich einfach unsichtbar, sie grüßten nicht zurück, wenn ich sie auf dem Campus grüßte. Sie lächelten nicht mal, wenn sie mir ins Gesicht sahen und ich ihnen ein vorsichtiges Lächeln schenkte. Als wäre ich ein Geist.

The Silent Side of LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt