23. Lesestunde

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Zwischen Grant und mir schien sich alles verändert zu haben, und irgendwie auch nichts. Wir lernten noch immer fast jede Woche zusammen, alberten herum und unterhielten uns über unser Privatleben. Einzig und allein das Thema Eltern ließen wir gekonnt außer Acht. Zwar gierte ich nach wie vor nach Antworten auf all meine Fragen, doch wollte ich Grant nicht zwingen, mir etwas zu erzählen. Insgeheim hoffte ich, dass er es eines Tages von allein tun würde.
Die Chemie zwischen uns schien sich noch mehr gefestigt zu haben und mittlerweile trafen wir uns auch des öfteren, um einfach zusammen abzuhängen. Bis auf Ruby hatte ich mich noch bei keinem Menschen so wohl und akzeptiert gefühlt wie bei Grant.

An einem kalten Januartag saßen wir bei Grant in der Wohnung und tranken heiße Schokolade, während im Hintergrund irgendeine Folge von The Big Bang Theory lief. Grant hing an seinem Handy, während ich ein Buch las, welches schon seit Monaten auf meinem Nachttisch gelegen und mich zum Lesen aufgefordert hatte. Letztendlich hatte ich es einfach mit zu Grant genommen und so saßen wir, zwar schweigend aber dennoch beschäftigt und zufrieden nebeneinander.

„Worum geht es in deinem Buch?" fragte Grant und nahm den Blick nach einer gefühlten Ewigkeiten zum ersten Mal von seinem Handybildschirm. Was er solange auf dem Ding anschaute blieb mir ein Rätsel. Er saß mit dem Rücken an die Armlehne des Sofas gelehnt, und ich saß ihm gegenüber auf der anderen Seite. Unsere Beine berührten sich beinahe unter der grauen Kuscheldecke, die über uns ausgebreitet lag.
Ich zeigte ihm bloß das Buchcover und las weiter.
„Danke für die Antwort. Was soll mir der Titel jetzt über den Inhalt verraten?" stichelte er ironisch und legte das Handy ganz beiseite.

„Du kennst ja wohl Friedhof der Kuscheltiere?" fragte ich entgeistert und sah ihn über den Rand des Buches an. Er schüttelte vehement den Kopf und ich schlug mir das Buch theatralisch gegen die Stirn.
„Das glaube ich einfach nicht. Ich meine, es gibt sogar einen Film darüber. Selbst den kennst du nicht?"
„Nein noch nie davon gehört. Wie heißt denn der Autor?"
Meine Augen wurden größer und größer.
"Stephen King. Sag nicht, du hast noch nie von ihm gehört."
„Nein."

„Ich sollte wohl besser gehen", sagte ich und tat so, als würde ich meine sieben Sachen zusammenpacken. Natürlich hatte ich nicht vor zu gehen, doch erzielte ich den gewünschten Effekt, dass Grant blitzschnell nach vorne hechtete und nach meinem Handgelenk schnappte. 

Wie immer begann meine Haut augenblicklich zu kribbeln. Jedoch hatte sich diese körperliche Reaktion so eingespielt, dass es sich fast nicht mehr wie etwas Besonderes anfühlte.
„Wie wärs wenn du mir - statt zu gehen - einfach daraus vorliest?"
„Du kannst selber lesen", grummelte ich, schnappte mir das Buch erneut und vertiefte mich darin. Doch Grant ließ nicht locker. Immer wieder tippte er mit seinem Fuß gegen mein Bein und lenkte mich damit mehr ab als er vermutlich dachte.

„Komm schon Ave. Bitte lies mir vor, ich bin doch viel zu faul, um selbst zu lesen", schmollte er und schob die Unterlippe vor, wie es ein Kleinkind tun würde, wenn man ihm die Süßigkeiten verwehrte.
„Das ist echt erbärmlich."
„Gib zu, du stehst drauf", grinste er jetzt und zwinkerte mir frech zu. Diese Aussage ließ ich bewusst unkommentiert.

„Aber ich bin mitten im Buch, du würdest den Zusammenhang gar nicht verstehen", versuchte ich mich aus der ganzen Sache rauszureden. Doch Grant gab natürlich nicht nach, tippte mich wieder mit seinem Fuß an und forderte:
„Jetzt lies endlich."

Ich verdrehte die Augen, atmete tief durch und begann zu lesen. Nun, es gab doch noch mehr als genug Dinge, die mir vor Grant unangenehm waren. Vorlesen war definitiv eins davon.
Obwohl meine Aufmerksamkeit strikt auf die Zeilen vor meinen Augen gerichtet war, spürte ich Grants durchdringenden Blick auf mir ruhen. Als ich einen kurzen Blick über das Buch warf, schaute ich direkt in seine Augen und es war als würde eine Feuerwerksrakete in meinem Bauch angezündet werden. Er sah mich mit hochgezogenen Brauen und dunklen Augen an. Unsicher biss ich mir auf die Unterlippe, ehe ich weiter lesen konnte.
Ich wusste nicht, wie lange wir dort saßen, doch als die Buchstaben schon vor meinen Augen zu verschwimmen schienen, hatte ich 46 Seiten laut vorgelesen.

Mittlerweile hatte er den Kopf gegen die Sofalehne gelehnt, doch sah er mich immer noch kontinuierlich an. Hatte er innerhalb der letzten 60 Minuten einmal seinen Blick abgewandt?
Meine brennenden Wangen behaupteten das Gegenteil. Ich konnte wohl vom Glück reden, dass ich zurzeit ausnahmsweise einen Thriller anstatt eines New Adult Romans mit Spice Szenen las. Dabei hätte mein Kopf mit Sicherheit angefangen zu qualmen.
„Leihst du mir das Buch mal aus?" fragte er, als er bemerkte, dass ich wohl nicht mehr weiterlesen würde.
„Gerne", lächelte ich und setzte mich auf, um etwas von meinem mittlerweile eiskalten Kakao zu trinken.

„Ich wäre beinahe eingeschlafen, weil deine Stimme so eine beruhigende Wirkung hat", gähnte er und setzte sich ebenfalls auf. Komisch, diesen Satz hatte sein Bruder doch auch schon mal zu mir gesagt.
„Oder weil du das Buch so langweilig fandest?"
Entsetzt sah Grant mich von der Seite an, ehe er mir in die Seite zwickte und anfing mich zu kitzeln.

„Stellst du mich jetzt etwa als Lügner dar?" Grinsend schaute er von oben auf mich herab, während er mir immer wieder in die Seiten zwickte, bis ich laut nach Luft japsend ein
„Stop" herausbekam.
„Was hast du gesagt? Lügner? Na warte." Wieder begann er mich zu kitzeln, doch diesmal konnte ich ein Bein befreien und ihn damit treten.

Aufheulend wandte er sich von mir ab und krümmte sich neben mir auf dem Sofa. Die Locken hingen ihm so wirr im Gesicht, dass mir sein Mienenspiel verwehrt blieb.
„Oh Gott, entschuldige Grant. Habe ich dir wehgetan?" fragte ich alarmiert und rüttelte vorsichtig an seinem Arm, welchen er über sein schmerzverzerrtes Gesicht gelegt hatte.
Plötzlich nahm er diesen runter, grinste mich an und sagte:
„Nein, aber ich wollte, dass du ein schlechtes Gewissen hast."
Mit diesen Worten sprang er auf und ging zur Haustür.
„Kommst du? Du hast gleich Training mit Claire."

Grinsend schüttelte ich den Kopf, ehe ich ihm hinterher trottete, zusah wie er seine Schwester aus ihrem Zimmer holte und mich gemeinsam mit den beiden auf den Weg zum Ballettunterricht machte.


The Silent Side of LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt