11. Kapitel - Unerwartete Gesellschaft

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Nachdem Ruby mich den ganzen Sonntag lang mit Anrufen und Nachrichten bombardiert hatte, welche ich jedoch getrost ignorierte, fiel es mir auf dem Campus doch leider um einiges schwerer, ihr aus dem Weg zu gehen. Für die meisten meiner Mitmenschen schien ich zwar unsichtbar zu sein, doch leider galt dies nicht für Ruby. Bereits zweimal hatte sie entdeckt, wie ich mich - eng an die Flurwand gedrückt - vor ihr versteckte, was zwar lächerlich, aber vollkommen nötig war. Ich wusste, wie kindisch ich mich verhielt, aber Rubys Worte steckten immer noch wie Scherbensplitter tief in meinem Herzen.

Da Kenny und Troian von dem ganzen Vorfall zwischen uns nichts mitbekommen hatten oder einfach nicht verstanden, warum ich mich so aufführte, verbrachten sie den Tag an Rubys Seite. Zu meinem Leidwesen, denn so musste ich mich einer zwar glasklaren, aber dennoch erschütternden Einsicht stellen. Ich war eine Einzelgängerin.
Ohne Ruby war ich ein Nichts. Auf den Fluren schlich ich wie ein Schatten hinter den anderen her, damit bloß niemand auf die Idee kam, mich anzusprechen, saß im Vorlesungssaal in mich gesunken in der hintersten Ecke und gab dabei keinen Mucks von mir. Wenn jemand an mir vorbeiging oder mich auch nur ansah, hallten in meinem Kopf die Worte „Bitte sprich mich nicht an" wie ein Mantra wider.

Meine Mittagspause verbrachte ich oft draußen auf der großen Wiese hinter dem Stamm einer großen Eiche. Heute lag zwar ein leichter Nebel über der Stadt, der noch dazu von kalten Windzügen durchbrochen wurde, doch auf eine gewisse Art und Weise entspannte es mich, zwischen den bereits heruntergefallenen Blättern zu sitzen und mein Brot zu essen. Zudem war ich eine der Einzigen, die sich bei dem Wetter nach draußen traute. Kein Wunder, wenn man sich die leicht bekleideten Studenten ansah, die auf dem Campus herumschwirrten. Von Capri Shorts über Hotpants bis hin zu BHs, welche wohl als Crop Top fungieren sollten, hatte ich an diesem diesigen Tag schon alles gesehen. Ich hingegen hatte mich nach einem Blick aus dem Fenster heute Morgen für einen übergroßen Kapuzenpulli entschieden. Einen Schönheitswettbewerb würde ich in diesem Outfit wohl kaum gewinnen, aber immerhin fror ich nicht und konnte mein Gesicht unter der riesigen Kapuze verbergen. Nun zumindest dachte ich das, bis ich jemanden meinen Namen rufen hörte.

„Avery? Was machst du denn hier draußen? Es ist eiskalt." Bevor ich überhaupt den Kopf heben konnte, drängten sich dunkelblonde Locken in mein Sichtfeld.
„Du weißt ja wohl noch, wer ich bin oder Avery?" Grant grinste mich verschmitzt an, ehe er mir die Hand hinhielt, um mir hoch zu helfen. Wie ich trug er einen Hoodie, die Kapuze - unter welcher einige widerspenstige Locken hervorlugten - auf dem Kopf.
Zaghaft erwiderte ich sein Lächeln und nickte. Seine Hand ignorierte ich. Er schien dies zu bemerken und ließ sich ohne ein weiteres Wort neben mich plumpsen.
Schon vor einigen Tagen hatte ich Grant auf dem Campus gesichtet, mich daraufhin aber schnell hinter meinem Buch versteckt, um einer möglichen Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Nun hatte er mich doch gefunden. So ein Mist.
Obwohl andererseits freute es mich nicht länger allein herum zu sitzen, sondern wenigstens kurzzeitig Gesellschaft zu haben.

„Es stört dich doch nicht, wenn ich dir Gesellschaft leiste oder?" fragte er, während er seinen Laptop aus dem Rucksack zog und auf seinem Schoß drapierte.
Ohne lange darüber nachzudenken, verneinte ich seine Frage. Dies wurde von ihm mit einem seichten Zucken seiner Mundwinkel quittiert. Wahrscheinlich machte er sich grade darüber lustig, dass ich es tatsächlich geschafft hatte, einen Ein-Wort-Satz zu bilden.
„Das freut mich. Ich wollte mich nämlich auch noch bei dir entschuldigen. Du weißt schon dafür, dass ich dir auf der Party unterstellt habe, du würdest auf Henry stehen und wegen seines Interesse an dem anderen Mädchen traurig sein. Das war übergriffig von mir und es tut mir leid."
Mit jedem einzelnen seiner Worte wanderten meine Augenbrauen näher zu meinem Haaransatz. Mit einer Entschuldigung hatte ich ehrlich gesagt nicht gerechnet und fast schämte ich mich schon, Grant am Wochenende so angegangen zu haben.
„Alles okay. Ich habe auch ein wenig überreagiert, es ist nur so dass ...", ich knete meine Finger und vermied es, Grant in die Augen zu sehen.
„Du musst dich gar nicht erklären. Ich wollte mich nur entschuldigen, damit dieser blöde Satz nicht zwischen uns steht." Seine Lippen zierte wieder ein sanftes Lächeln, ehe er sich von mir abwandte und begann, etwas auf seinem Laptop zu tippen. Für ihn war das Gespräch wohl hiermit beendet.

The Silent Side of LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt