19. Das Weihnachtskonzert

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Es war Freitag, der 22. Dezember und in unserer Tanzschule herrschte bereits seit dem Morgengrauen ein reges Treiben. Zwischen den umherliegenden Haarklammern, den Ballettschuhen und den bunten Kostümen konnte man nur noch vage das Zopfmuster des Parkettbodens erkennen. Kleine und große Schüler wuselten wild durcheinander, versammelten sich ein letztes Mal in ihren Gruppen, gingen Schritte durch, dehnten sich und versuchten vor Aufregung nicht ohnmächtig zu werden. Das Weihnachtskonzert war zwar erst morgen, doch heute war die Generalprobe, was bedeutete, dass meine Mutter extra streng zuschaute, dass auch ja alles glatt lief.

Selbst mir hatten schon oft die Knie gezittert, wenn sie mit ihrem eisernen Blick durch die Reihen schritt und alles prüfend unter die Lupe nahm.
Grade tanzten die zehn bis 14 - Jährigen zur Melodie des Nussknackers, während ich dafür verantwortlich war, die jüngeren Tänzer in der richtigen Reihenfolge einzuordnen. Für sie war es etwas ganz besonderes, da es für die meisten der allererste Auftritt vor Publikum war.
Claire hatte sich einen Platz in der ersten Reihe gesichert und drehte stolz Pirouetten in ihrem blassblauen Tutu.

„Okay, Leute seid ihr bereit?" rief ich in die Menge, als meine Mutter mir mit einer Handbewegung signalisierte, dass die nächste Gruppe an der Reihe war. Die Kleinen trippelten wie einstudiert in den Tanzsaal und stellten sich brav ins Plié, ehe sie auch schon anfingen ihre Arme seitlich über den Kopf zu heben. Am seichten Lächeln meiner Mutter konnte ich erkennen, dass sie sehr zufrieden mit ihrer Leistung war und klopfte mir selbst innerlich lobend auf die Schulter. Immerhin hatte ich viel zum Training dieser Gruppe beigetragen.

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Für meinen Geschmack flog der Tag vor dem großen Aufritt, wie jedes Jahr, viel zu schnell an mir vorbei. Ich liebte die hektische und Stimmung hinter der Bühne. Lampenfieber, Aufregung und die Vorfreude auf die bevorstehenden Ferien erhitzten den Raum. Wichtelgeschenke wurden ausgetauscht und der Geruch von Orangentee und Spekulatius lag in der Luft. Jedes Mal, wenn die Tür oder ein Fenster geöffnet wurde, wehte die klirrende Kälte von draußen herein und kühlte unsere erhitzten Gesichter. Das Koordinieren, Organisieren und Mut zusprechen hinter der Bühne machte mir Spaß und lenkte mich von meinem eigenen Solo-Auftritt ab.

Sobald meine Gedanken sich nämlich eben diesem Auftritt widmeten, wurde mir ganz anders. Meine Hände fingen an zu zittern und ich musste langsam und tief durchatmen, um nicht in Atemnot auszubrechen. Wie sollte ich ganz alleine auf dieser Bühne stehen und tanzen? Noch dazu, um die Tanzschule meiner Mutter, ihr Lebenswerk, zu repräsentieren? Natürlich hatte ich das schon zig mal gemacht und hatte auch Spaß dabei empfunden, aber trotzdem fiel ich vor jedem Aufritt beinahe in Ohnmacht. Normalerweise tanzte ich aber auch nicht allein, sondern zusammen mit Ruby. Diese war allerdings in diesem Jahr keine Option gewesen, denn ich hatte sie nicht gefragt und sie hatte auch kein Interesse an einer gemeinsamen Arbeit gezeigt.

So kam es also, dass ich nun schnaufend hinter der Bühne stand, mir wie wild Luft zufächelte und darauf wartete, dass der Moderator meinen Namen aufrief. Zwanghaft ermahnte ich mich selbst bloß keinen Blick hinter den Vorhang zu werfen, denn würde ich in die neugierigen Gesichter im Publikum blicken, würde ich mich auf der Stelle übergeben. Im Anbetracht der Tatsache, dass mein Magen sich sowieso umdrehen würde, sobald ich einen Fuß auf die Bühne setzte, wäre es jedoch vielleicht gar keine schlechte Idee, meinen Magen jetzt schon einmal zu leeren.
Überall musste es jetzt grade besser sein als hier. Doch das konnte ich meiner Familie und der Tanzschule meiner Mutter nicht antun.
Meine Familie saß in der ersten Reihe und auch meine Freunde Kayleigh, Kenny, Troian und Grant mussten irgendwo dort draußen sein. Das Benefiz Konzert fand jedes Jahr im größten Theater der Stadt statt, welches dem Ganzen einen festlichen und prunkvollen Charakter verlieh. Mit rotem Samt überzogene Sessel reihten sich eng aneinander und es gab vier Balkone, von denen die Zuschauer sich das Spektakel ansehen konnten. Wenn ich keine Fehlinformationen erhalten hatte, saß dort oben sogar der Bürgermeister. Bevor ich darüber noch länger nachdenken und mir selbst Angst einreden konnte, erklang mein Name durch die Lautsprecher.

Ich atmete einmal tief durch, strich mir mit den Händen einmal durchs Gesicht und ging dann mit einem zaghaften Lächeln und zittrigen Knien auf die Bühne. Jedoch verdeckt von dem schweren dunkelroten Vorhang, welcher mit einem leisen Quietschen - welches vermutlich nur ich hören konnte - aufgezogen wurde.
Die sanften Klavierklänge der Cover Version von Ordinary World ertönten und langsam hob ich den Kopf.
Ich blickte direkt in die Augen meiner Mutter, welche mir aufmunternd zunickte. Natürlich wusste sie, wie nervös ich war. Aber ich sah in ihren Augen auch eine Spur von Sehnsucht. So wie sie mich verstand, verstand ich sie. Ohne Worte. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als auch wieder auf der Bühne zu stehen, doch leider blieb ihr dies nach einer Knieoperation im letzten Jahr fürs Erste verwehrt.

Der Kegel des Scheinwerfers erwischte mich und mit einem Mal sah ich nichts mehr außer beißend grellem Licht. Umso besser, wenn ich sie nicht sehe, sehen sie mich auch nicht. Mit diesem Gedanken fing ich an, mich zu bewegen. Genoss, dass Gefühl des seichten hellblauen Kleids, welches sich wie ein Schatten an meine Bewegungen anpasste und mich wie eine Umarmung umhüllte. Ich tanzte, als wäre ich dafür geboren und verschwendete keinen Gedanken mehr daran, dass ich womöglich von mehreren hundert Augenpaaren beobachtet wurde. Ich verschmolz mit der Musik, wurde eins mit dem Schmerz und der Sanftheit der Noten.

Erst als ich zusammengerollt auf dem Boden lag, mein Brustkorb sich rasend auf und ab bewegte, keine Musik mehr zu hören war und auch kein grelles Licht mehr auf mir lag, sah ich all die Menschen, welche begeistert klatschten und pfiffen. Einige erhoben sich sogar aus ihren Sitzen. Ein Blick zur Seite zeigte mir, dass auch die anderen Schüler begeistert klatschten und sogar Ruby stand hinten in der Ecke, ein Lächeln auf den Lippen, und klatschte.
Benommen von dem Gefühl rappelte ich mich auf, machte einen Knicks und tänzelte beschwingt von der Bühne.

Hinter der Bühne wartete meine Mutter bereits auf mich und schlang ihre Arme um meinen Hals, um mich fest an sich zu drücken.
„Das war so wundervoll, mein Liebling", flüsterte sie und wischte sich schnell über die Augen, um die Tränen aufzuhalten.
Ich bedankte mich bei gefühlt tausend Leuten, ehe ich einen Moment für mich genießen konnte. Mit so einer Resonanz hatte ich wirklich nicht gerechnet. Sogar der Bürgermeister hatte sich einen Weg hinter die Bühne gebahnt, um mir seinen Respekt auszusprechen und das nur wegen eines Tanzes. Meine Mutter war vor Stolz geplatzt und ich wäre wohl vor Scham im Erdboden versunken, wenn ich nicht immer noch so benommen und glücklich gewesen wäre.

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Nachdem ich mein blaues Kleid wieder gegen Jeans und Winterjacke getauscht hatte trat ich hinaus in die kühle Abendluft. Die Sonne ging grade unter und schien mich mit ihren letzten Sonnenstrahlen beglückwünschen zu wollen. Tief einatmend genoss ich das leichte Kribbeln auf der Haut, als ich eine warme Hand an meinem unteren Rücken spürte. Ohne hinzusehen wusste ich wem diese Hand gehörte. Meine Lider öffneten sich flatternd.
Ehe Grant etwas sagte nahm er mich fest in den Arm. Er verschränkte die Unterarme hinter meinem Rücken, sodass wirklich kein Blatt mehr zwischen uns gepasst hätte. Nun ja, außer unsere unsere dicken Winterjacken.

Ich schlang meine Arme wie von selbst um seinen Hals und kicherte.
Ich spürte seinen warmen Atem an meinem Hals als er flüsterte:
„Dein Auftritt war einfach atemberaubend Avery. Du hättest Claires große Augen sehen müssen."
Von der Euphorie noch immer beflügelt drückte ich ihn noch ein wenig fester an mich.
„Ich glaube ich habe noch nie jemanden so bezaubernd tanzensehen."
Noch immer hielt er mich fest und ich wünschte mir, er würde mich nie wieder los lassen.
„Vielen Dank", wisperte ich und lockerte meine Arme langsam.
Zu meinem Bedauern schien Grant dies als Zeichen zu sehen mich loszulassen, denn auch seine Arme lockerten sich und rutschten auf meine Hüfte.
Wir sahen uns tief in die Augen und am liebsten hätte ich ihm mit den Fingerspitzen über die Wange gestreichelt aber ich tat es natürlich nicht. Dies wäre der perfekte Moment für einen Kuss, dachte ich und zerstörte damit womöglich die Situation. Wer kennt nicht das Phänomen, dass etwas erst recht nicht mehr passiert wenn man den Gedanken einmal zu Ende gesponnen hat? Und tatsächlich löste Grant langsam die Hände von mir um sich mit der Hand unbeholfen durchs Haar zu fahren. Er wirkte verlegen. Grade so, als wäre ihm soeben etwas wichtiges eingefallen.
„Auf jeden Fall war das ein super Auftritt, Ave."
Er lächelte, doch das Lächeln erreichte seine Augen nicht. Was war innerhalb der letzten 30 Sekunden geschehen, was ihn so verändert hatte?
Mein Glücksgefühl verschwand mit einem Mal und ich schlug hart auf dem Boden der Realität auf. Unbeholfen hob Grant die Hand ehe er in die entgegengesetzte Richtung davon lief.
Und hier stand ich. Grade noch Himmelhoch jauchzend und nun zu Tode betrübt.

The Silent Side of LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt