„So Mädels, dann sehen wir uns nächste Woche in alter Frische."
Wie immer klatschte meine Mutter am Ende des Unterrichts in die Hände und verließ den Raum, noch bevor jemand anderes auch nur daran denken konnte. Völlig erschöpft und aus der Puste stellte ich mich zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit auf meinen ganzen Fuß und seufzte erleichtert, als meine Fußspitzen nicht mehr mein gesamtes Gewicht tragen mussten. Ruby zischte an mir vorbei, um so schnell wie möglich zu verschwinden. Traurig sah ich ihr nach. Normalerweise wäre sie nach dem Training noch mit zu mir nach oben gekommen, doch diese Zeiten waren wohl fürs erste vorbei.Stattdessen bemerkte ich jedoch, dass Grant und Claire noch da waren. Grant saß immer noch im Schneidersitz auf dem Boden, lässig auf den Armen abgestützt, während Claire vor ihm Pirouetten drehte und dabei sichtlich mit Schwindelproblemen zu kämpfen hatte. Prustend verlor sie das Gleichgewicht und fiel ihrem lachenden Bruder kopfüber in die Arme. Reflexartig fing dieser sie auf und begann sie mit flinken Fingern zu kitzeln.
„Hey Ave, du gehst doch mit uns ein Eis essen oder?"
Vollkommen aus meinen Träumen - oder besser gesagt meinen Schwärmereien gerissen - schüttelte ich leicht mit dem Kopf: "Wie bitte?"
Natürlich hatte ich Grants Frage genau verstanden, aber in dem Zustand konnte ich doch unmöglich in die Öffentlichkeit treten.„Der kleine Quälgeist", er deutete mit den Augen vielsagend auf Claire, welcher er immer noch mit seinen Armen festhielt, „und ich gehen jetzt noch ein Eis essen. Wir würden uns freuen, wenn du mitkommst." Er unterstrich seine Worte mit einem zaghaften Lächeln und schaute mir dabei tief in die Augen. Mit einem Mal fühlte es sich so an, als könne er durch mich hindurch sehen. Mir jeden Gedanken, jede Gefühlsregung im Gesicht ablesen.
„Gebt mir fünf Minuten." Mit diesen Worten hastete ich die enge Wendeltreppe hinauf in unsere Wohnung, vorbei an meiner verblüfften Mutter direkt in mein Zimmer, um mir etwas zum anziehen herauszusuchen und mich wenigstens ein bisschen frisch zu machen.
Im Endeffekt sah ich natürlich aus wie an jedem normalen Schultag.
Was hatte Grant bloß für einen Einfluss auf mich? Hatte ich grade einfach zugestimmt mit ihm und seiner Schwester ein Eis essen zu gehen?Oh Gott, worüber sollten wir bloß die ganze Zeit reden. Heute konnte ich mich nicht hinter meinem Laptop verstecken, um einem Gespräch aus dem Weg zu gehen und ihn bloß still und heimlich anschmachten zu können. Nein, beim Eis essen würde ich wohl nicht um ein Gespräch herum kommen. Hiermit konnte ich mich wohl feierlich von meinem Mittagspausenfreund verabschieden, denn heute würde Grant mit hundertprozentiger Sicherheit merken, dass ich einfach eine komplett langweilige Person war. Er verschwendete seine Zeit mit mir. Vielleicht sollte ich ihn irgendwie darauf hinweisen.
Obwohl, dass könnte ich ja nach dem Treffen noch genauso gut machen.-⁕-
Mit jeweils zwei Kugeln Eis bewaffnet machten Grant, Claire und ich es uns wenig später auf einer Bank in der Nähe des Piers 39 gemütlich. Zu Claires' Freude tummelten sich um die hundert Seelöwen auf den kurzen Stegen und genossen die letzten Sonnenstrahlen, so wie wir. Doch Claire schien immer noch so begeistert von der vorherigen Ballettstunde, dass sie die Tiere vorerst gar nicht richtig wahrzunehmen schien.
„Irgendwann möchte ich auch Spitzenschuhe haben", verträumt schleckte sie an ihrem Eisbällchen mit Kaugummigeschmack und ließ ihre Beine hibbelig über den Rand der Bank baumeln.
„Das wirst du bestimmt auch", aufmunternd lächelte ich ihr zu, was sie aber gar nicht zu bemerken schien. Stattdessen rief sie laut:
"Dann werde ich eine richtige Ballerina, so wie du!"
„Alles zu seiner Zeit, Belle. Du wirst schon noch schnell genug groß."
Neckend knuffte ihr Bruder sie in die Seite. Doch für heute schien Grant es sich mit seiner Schwester - trotz des Eis'- verscherzt zu haben, denn sie ignorierte ihn gekonnt. Auf einmal mal sprang sie auf:
"Seht nur, was die Seelöwen da machen!"
Aufgebracht zeigte sie aufs Wasser, wo grade zwei Seelöwen fangen zu spielen schienen. Sie flitzten durchs Wasser und jedes mal wenn sie sich begegneten, kamen sie an die Oberfläche und machten einen unglaublichen Lärm, indem sie sich gegenseitig mit Wasser bespritzten. Mit einem Hops war Claire von der Bank gesprungen und hatte sich zu den schaulustigen Touristen gesellt. Grant konnte ihr grade noch ein:
"Geh nicht zu nah ran", hinterherrufen.„Warum nennst du sie immer Belle?" fragte ich interessiert, während ich ebenfalls das rege Treiben beobachtete. Zugegeben, tat ich dies vor allem um einen möglichen Blickkontakt mit Grant zu verhindern, denn ich wollte nicht noch mal das Gefühl bekommen, dass er mir mit einem Blick in die Seele schauen konnte. Auch wenn ich oft über meine Verschlossenheit nörgelte, so wollte ich auch nicht, dass jeder in mir lesen konnte wie in einem offenen Buch. Doch aus irgendeinem mir unerfindliche Grund schien Grant genau das zu können. Vielleicht war das Gefühl der Aufmerksamkeit für mich jedoch auch einfach nur so neu, dass ich mir das alles nur einbildete.
„Bis vor drei Jahren konnte sie den Namen Claire nicht aussprechen, und Belle ist der Name den mein Vater ihr am liebsten gegeben hätte. Doch Mum hat sich mit Claire durchgesetzt. Oh, und außerdem ist ihr Lieblingsfilm - wer hätte das gedacht - die Schöne und das Biest. Noch dazu ist sie nun mal das Nesthäkchen und braucht deshalb einen besonders süßen Kosenamen."
Trotz des Zwinkerns seines rechten Auges hatte ich den traurigen Unterton, den seine Stimme bei den Worten Mum und Dad angenommen hatte, nicht überhört. Jedoch stellte ich keine weiteren Fragen zu dem Thema. Es ging mich schließlich nichts an und Grant und ich kannten uns für tiefe Geheimnisse auch noch lange nicht gut genug.
„Es ist wirklich ein süßer Kosename", bestätigend nickte ich und schob mir das letzte Stück meines Hörnchens in den Mund.Eine Weile schwiegen wir und sahen auf das Meer hinaus, wessen weiße Gischt im Sonnenlicht glitzerte. Zu meinem Erstaunen fühlte es sich gar nicht mal so unangenehm an. Im Gegenteil, ich war sogar entspannt, genoss das Kreischen der Möwen und die frische Brise auf meinem Gesicht.
„Du Avery, mein Bruder und ich geben am Samstag eine Party zu Ehren seines 25. Geburtstags. Magst du nicht auch kommen? Es würde mich freuen." Noch während er sprach, wendete er mir sein Gesicht zu und ich spürte wie ich augenblicklich errötete.
Irgendwie hatte ich gehofft, dass er mich nach einem weiteren Treffen, oder zumindest einer Gelegenheit ihn außerhalb des Campus zu sehen fragte, doch jetzt wo er es wirklich tat, wollte mein Gehirn es nicht so ganz glauben. Obwohl ich in Grants Nähe ein anderer Mensch zu sein schien, lockerer und immerhin ein bisschen redegewandter, verstand ich nicht woran ich bei ihm war. Hatte ich auf ihn vielleicht auch eine besondere Wirkung? Oder waren das wieder mal nur meine übereifrigen Interpretationen?
Wie von Zauberhand wurden meine Zweifel beiseite geschoben und bevor mein Gehirn sich noch weitere Sorgen machen konnte, verzog sich mein Mund wie von selbst zu einem Lächeln und formte die Worte:" Ich komme gern."
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The Silent Side of Love
RomansaEin neuer Lebensabschnitt kann ziemlich herausfordernd sein, besonders wenn man plötzlich ohne langjährige beste Freundin dasteht und stattdessen mit einer großen Portion Angst und unbekannten Gefühlen jonglieren muss. Für die leidenschaftliche Tänz...