Zu Sophies Bedauern war ihr Ausrutscher mit dem Fischbrötchen nicht einmalig. Überhaupt war ihr Veganismus praktisch nicht mehr vorhanden. Obwohl sich ihr Verstand nichts sehnlicher wünschte, als dass sie wieder zu ihrem gewohnten Essverhalten zurückfinden würde, sagte ihr Körper ihr etwas ganz anderes. Die Vorstufe von Hunger ist, wenn man auf etwas Appetit bekommt. Dieses Gefühl kannte Sophie nicht mehr. Für sie existierten nur noch zwei Zustände. Sättigung und Hunger. Dazwischen gab es nichts mehr. Und wenn sie Hunger bekam, dann kam dieser mit solch einer Wucht, dass sie sich kaum noch beherrschen konnte. Mehr als einmal hatte sie versucht, diesen Hunger mit einer veganen Bowl oder anderen veganen Gerichten zu stillen. Aber egal was sie sich kaufte oder kochte, sobald das Essen vor ihr auf dem Tisch stand, verging ihr der Appetit. Sie konnte es sich nicht erklären, aber von den Lebensmitteln ging ein unglaublich widerlicher Geruch aus.
Sophie hatte auch schon mehrfach versucht, diesen Hunger zu unterdrücken. Aber irgendwann war er so stark, dass ihr Gehirn auszusetzen schien und wie ein ferngesteuerter Roboter lief sie dann zum nächsten Imbiss und kaufte sich irgendetwas mit viel Fleisch, was sie dann wie eine Irre in sich hinein stopfte.
Sie schämte sich dafür so sehr, dass sie ihren Kühlschrank nur noch mit "nicht-veganen" Lebensmitteln aufgefüllt hatte. Ihre Heißhungerattacken waren ihr so peinlich, dass sie mit allen Mitteln versuchte, sie vor ihren Mitmenschen zu verstecken. In der Kühlschranktür reihte sich eine Milchpackung nach der anderen. Der Rest des Kühlschranks war aufgefüllt mit Würstchen, Wurst, Steaks, Fisch und vielem mehr. Hauptsache es war nicht vegetarisch oder vegan. Sophie hatte herausgefunden, dass wenn sie morgens, bevor sie zur Arbeit ging, ein großes Glas Milch und zwei Würstchen aß, dass sie es dann bis zur Mittagspause ohne Heißhungerattacken aushielt. Da ihre Kollegen alle wussten, dass sie eine überzeugte Veganerin war, ließ sie sich jedes Mal eine Ausrede einfallen, warum sie nicht gemeinsam mit ihnen essen konnte. Bei der nächsten Gelegenheit schlang sie dann meistens zwei Fischfilets oder ein Steak hinunter. Sophie hatte ihren Kollegen gegenüber ein schlechtes Gewissen, dass sie sich so abkapselte. Aber sie wollte es um jeden Preis verhindern, dass sie erfuhren, was mit Sophie los war.
Es war ein Donnerstag, als Sophie bereits mit Kopfschmerzen aufwachte. Als wäre nicht schon alles ätzend genug, bekam sie jetzt auch noch Migräne. Aber trotz dröhnendem Schädel machte sie sich auf den Weg zur Pathologie. Als sie die Tür zum Umkleideraum öffnete, zuckte sie zusammen. Sie wusste, dass die Tür schon immer gequietscht hatte, aber ihr kam das Quietschen heute um ein Vielfaches lauter vor als sonst.
Nachdem sie sich umgezogen hatte und das Labor betrat, hatte sie den Eindruck, als würden sich ihre Kollegen nicht miteinander unterhalten, sondern sich gegenseitig anschreien. Sie massierte sich einige Sekunden die Schläfen und machte sich dann an die Arbeit.
Heute befand sich ihr Arbeitsbereich an der Ausgießstation, die eine Kühlplatte neben sich stehen hatte. Im Raum befanden sich noch eine weitere Ausgießstation und drei Mikrotome mit jeweils einer Kühlplatte. Alle fünf Kühlplatten brummten, summten und schepperten heute lauter als sonst vor sich hin. Hinter Sophies Arbeitsplatz gab es noch einen Brutschrank, dessen Geräusche heute auch wesentlich lauter als sonst waren. Sie fragte ihre Arbeitskollegen, ob der Brutschrank kaputt sei, aber ihre Arbeitskollegen schüttelten nur irritiert die Köpfe und verneinten ihre Frage.
Sophie setzte sich an ihre Ausgießstation und nahm sich einen Stapel kleiner, heißer Förmchen, um die kleinen Magen-Darm-Proben in Paraffin auszugießen. Da rutschten ihr plötzlich die heißen Förmchen aus der Hand und schlugen mit einem ohrenbetäubenden Lärm zu Boden. Sophie schlug sich die Hände auf die schmerzenden Ohren.
Als sich ihre Ohren ein wenig beruhigt hatten, ging der Lärm erst richtig los. Um gegen die morgendliche Müdigkeit anzukämpfen, schaltete eine Arbeitskollegin das Radio ein und fing dabei an, von ihrem gestrigen Tag zu erzählen. Während sie fröhlich erzählte, was sie gemacht hatte, bereitete sie sich die Paraffin-Blöcke zum Schneiden am Mikrotom vor. Dabei musste sie den Paraffinblock aus den nun kalten Förmchen von der Kühlplatte an der Ausgießstation kratzen. Dabei sortierte sie die Förmchen nach Form und machte kleine Stapel.
Bei jedem Förmchen, das sie auf das andere legte, zuckte Sophie zusammen. Die anderen beiden Arbeitskolleginnen hatten sich ihre Blöcke auf der Kühlplatte neben sich schon vorbereitet und fingen nun am Mikrotom an zu schneiden. Es machte einen höllischen Lärm. Überall brummte, klimperte und klapperte ein Gerät, die Arbeitskolleginnen sprachen wild durcheinander und das Radio trällerte einen Song von "The Queen".
Der Lärmpegel um Sophie herum wurde immer lauter und das Dröhnen in ihrem Kopf immer heftiger. Sophie biss die Zähne zusammen, aber es hatte keinen Zweck. Ihr platzte bald der Kopf. Sie schmiss ihre Arbeitsutensilien auf den Tisch und eilte aus dem Zimmer in Richtung der Umkleideräume. Sie kam an ihrem Kollegen Lukas vorbei, dem nicht entging, dass etwas nicht stimme.
"Hey Sophie, ist alles ok? Du siehst ganz blass aus", fragte er besorgt.
"Kannst du mich bitte bei Nicole abmelden und ihr sagen, dass ich auf dem Weg nach Hause bin? Mir platzt gleich der Schädel vor Kopfschmerzen", presste Sophie gerade so zwischen ihren zusammengebissenen Zähnen hervor. Dann stürmte sie aus dem Labor.
So schnell sie konnte, hatte sich Sophie wieder umgezogen und eilte hinaus zu ihrem Auto. Sie knallte die Autotür hinter sich zu, bereute es aber sofort. Der Knall klang in ihren empfindlichen Ohren eher wie ein Kanonenschuss. Sie schob den Autoschlüssel ins Zündschloss und drehte sofort die Lautstärke der Musikanlage auf Null. Nichts wie ab nach Hause.
Doch auch die Heimfahrt gestaltete sich als eine besondere Herausforderung. Sophie kam es so vor, als seien heute nur die besonders aggressiven Autofahrer auf den Straßen unterwegs. Autofahrer, die die Reifen ihrer Autos durchdrehen ließen, Autofahrer mit besonders aufgemotzten Auspuffen und nicht zu vergessen die hupenden Autofahrer, die sich sofort bemerkbar machten, wenn man an der gerade grün gewordenen Ampel nicht innerhalb von einer Millisekunde losgefahren war.
Nach einer gefühlten Ewigkeit schloss Sophie endlich die Wohnungstür hinter sich. Sie atmete hörbar aus. Eigentlich hatte sie nie mit Migräne zu kämpfen gehabt in ihrer Vergangenheit. Deshalb wunderte sie sich, wo plötzlich diese starken Kopfschmerzen herkamen. Vielleicht war das eine Begleiterscheinung ihrer noch unbekannten Allergie? Egal was es war, Sophie musste sich dringend hinlegen. Sie ging in ihr Schlafzimmer und verdunkelte mit den Vorhängen das Zimmer. Anschließend schlüpfte sie aus ihren Straßenklamotten hinein in ihren bequemen Pyjama und schlüpfte unter die Bettdecke. Bevor Sophie erschöpft und mit dröhnendem Kopf die Augen schloss, warf sie noch einen schnellen Blick auf ihr Handy. 13:34 Uhr. Dann schloss sie die Augen und driftete in einen traumlosen, aber schweren Schlaf.
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Der Fluch der Khepri
FantasySophie wuchs unter keinen guten Bedingungen auf. Ihre Mutter war noch eine Schülerin, als sie Sophie direkt nach der Geburt vor der Haustür ihres Vaters absetzte und sich aus dem Staub machte. Ihr Vater war selbst fast noch ein Teenager. Er hatte di...