Toni schien zu spüren, dass etwas mit Sophie nicht stimmte. Denn als sie über die morsche Brücke gelaufen waren und wieder auf der anderen Seite des Flusses angekommen waren, fragte er: "Hey, ähm, Sophie, also ich weiß, dass ich gestern gesagt habe, dass du mir nichts erzählen musst wenn du das nicht möchtest. Aber ich merke doch, dass etwas mit dir nicht stimmt, seit wir die tote Katze gefunden haben."
"Es ist alles ok, ich möchte nicht darüber reden", wehrte Sophie ab und duckte sich, um zurück in den Fuchsbau zu kriechen.
"Du kannst es mir wirklich sagen. Ich werde auch nicht lachen. Weißt du, manchmal geht es einem besser, nachdem man darüber gesprochen hat, was einen bedrückt."
Nun musste Sophie fast selbst lachen. Es gäbe nichts, worüber Toni lachen könnte. Ihr ganzes Leben war ein einziger Scherbenhaufen. Sie wusste nicht einmal wie sie ihm alles erklären sollte, ohne dass es total verrückt klang. Sie selbst war sich ja nicht einmal sicher, ob sie vielleicht nicht den Verstand verlor. Aber andererseits, was konnte es schaden, Toni von ihrem Traum zu erzählen. Im schlimmsten Fall würde er es als einen dummen Zufall abtun. Sie musste ihm ja nicht erzählen, dass sie bis vor wenigen Tagen noch als Mensch durch die Gegend gelaufen war.
"Also gut", seufzte Sophie. "Aber du musst versprechen, dass du mich nicht für verrückt hältst."
"Versprochen Sophie. Du kannst mit mir über alles sprechen und ich werde dir zuhören."
"Die tote Katze von vorhin. Du hattest Recht, das hat was mit mir gemacht. Denn ich habe sie schon einmal gesehen."
"Oh nein, das tut mir schrecklich leid, Sophie. Das habe ich nicht gewusst. Bist du ihr begegnet, bevor wir uns begegnet sind?"
"Nein, ich bin ihr nicht im wirklichen Leben begegnet. Sondern im Traum. Ich habe heute Nacht von ihr geträumt."
Toni blickte sie fragend an, antwortete aber nicht, was Sophie so verstand, dass sie weiter erzählen sollte.
"Ich hatte heute Nacht einen Albtraum. Er war so real. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich wirklich dort gewesen. Ich habe von einer Straße geträumt, auf der eine Katze von einem Auto angefahren wurde."
"Auto? Was ist ein Auto?", unterbrach Toni sie.
Da fiel es Sophie wieder ein. Toni wusste nicht, was ein Auto ist, für ihn war ein Auto ein Donnermonster.
"Ähm, ein Auto ist ein Donnermonster. Ich habe mal gehört, wie sich die Zweibeiner darüber unterhalten haben."
"Sophie", erwiderte Toni. "In dieser Stadt gibt es hunderte von Straßen. Und es werden ständig Katzen von Autos angefahren. Manche überleben und manche sterben."
"Nein, Toni, du verstehst das nicht. Ich habe exakt von dieser Straße geträumt und exakt von diesem Seitenstreifen mit dem hohen Gras, durch das wir gelaufen sind. Ich habe sogar von dieser blöden Chipstüte geträumt auf die ich getreten bin. Und ich habe von dieser alten Katze geträumt. In meinem Traum war sie blind und taub. Sie wollte die Straße überqueren, ich habe ihr noch zugerufen, aber es war zu spät und das Auto kam und hat sie getötet", Sophie senkte betreten den Blick.
Toni tippte ihr mit seiner Schwanzspitze sanft auf die Schulter und sagte: "Hey, Sophie, Kopf hoch. Es war nur ein Traum. Du hast gestern viel erlebt und viele Eindrücke gesammelt. Wahrscheinlich war das der Grund für deinen realistischen Traum. Mach dir keine Sorgen. Heute Nacht kannst du bestimmt schon wieder viel besser schlafen."
Auch wenn Sophie etwas enttäuscht war, dass Toni ihr tatsächlich nicht glaubte, fühlte sie sich trotzdem erleichtert, von ihrem Traum erzählt zu haben. Und auch wenn sie ihm gerne glauben würde, dass der Traum das Ergebnis der gestrigen Erlebnisse war, spürte sie, dass es nicht so war.
Toni befahl Sophie im Fuchsbau zu bleiben, während er sich darum kümmerte, etwas Essbares aufzutreiben. Dankend nahm Sophie es an, dass sie nicht noch einmal nach draußen musste. Sie rollte sich so klein zusammen wie nur irgend möglich und schloss die Augen. Noch bevor Toni zurückkam, war sie bereits eingeschlafen und fing wieder an zu träumen.
Es war mitten in der Nacht und Sophie fand sich am Flussufer wieder. Es musste derselbe Fluss sein, in dessen Nähe Toni und sie den verlassenen Fuchsbau gefunden hatten. Allerdings war es in dieser Nacht sehr windig und das Wasser des Flusses kräuselte sich heftig und floss nicht mehr so sanft und ruhig dahin wie am Tag zuvor. Die Blätter der Bäume um sie herum raschelten und Äste knarrten. Durch das Rauschen des Windes vernahm Sophie ein leises Rufen.
Sie spitzte ihre Ohren, hatte sie das eben tatsächlich gehört oder war das nur der Wind gewesen? Doch eine Sekunde später konnte sie es wieder hören. Ein leises und ängstliches Rufen. Sophie versuchte noch genauer hinzuhören, um ausfindig zu machen, von wo das Rufen kam. Langsam lief sie in die Richtung, aus der sie meinte, das Rufen zu hören. Ihr wurde mulmig zumute, als sie sah, dass sie sich dem tosenden Fluss immer mehr näherte.
Mit ausreichendem Sicherheitsabstand blieb sie am Ufer stehen und spitzte noch einmal die Ohren. Zuerst dachte sie, sie hätte sich getäuscht und sich das Rufen nur eingebildet. Doch im selben Moment hörte sie es wieder, ein piepsiges, panisches Rufen und es schien, als würde es direkt vom Fluss kommen. Sophie kniff die Augen zusammen und blickte auf das Wasser und suchte die Oberfläche ab. Als sie auf dem Wasser einen großen Pappkarton erkannte und verstand, dass das Rufen von dort kam, sackte ihr das Herz zwei Etagen tiefer.
"Hallo?", rief Sophie laut, um gegen das Tosen des Wassers und das Rauschen der Bäume anzukommen. "Hallo! Ist da jemand?"
Sophie lauschte angestrengt und beobachtete den Karton auf dem Wasser. Plötzlich sah sie zwei winzige Ohren, die im Karton zu sehen waren, und dann tauchte der kleine Kopf eines jungen Kätzchen auf. Panisch blickten die Augen des Kätzchens umher, bis sie an Sophie hängen blieben. "Hilfe! Bitte, hilf mir. Der Karton wird immer weicher", rief das Kätzchen mit ängstlicher Stimme.
Sophies Gedanken rasten. Wie konnte sie diesem Kätzchen helfen, bevor es ertrinken würde? Plötzlich schrie das Kätzchen so laut es konnte und Sophie sah, dass der Karton nun komplett durchgeweicht war und anfing zu sinken. Sie konnte nichts tun, sie hörte das Kätzchen verzweifelt mit den Pfoten strampeln, bis der Kopf des Kätzchens unter Wasser tauchte und nicht mehr nach oben kam.
Sophie schnappte nach Luft und schreckte aus ihrem Traum auf. Panisch sah sie sich um und stellte fest, dass sie sich immer noch im Fuchsbau befand.
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Der Fluch der Khepri
FantasySophie wuchs unter keinen guten Bedingungen auf. Ihre Mutter war noch eine Schülerin, als sie Sophie direkt nach der Geburt vor der Haustür ihres Vaters absetzte und sich aus dem Staub machte. Ihr Vater war selbst fast noch ein Teenager. Er hatte di...