Der Streit mit Sophies Vater lag nun ein paar Tage zurück. Die ersten paar Nächte schlief sie sehr unruhig. Sie hatte immer wieder das wütende Gesicht ihres Vaters vor Augen. Ein Mix aus Schuldgefühlen, Enttäuschung und Wut machte sich in ihrem Inneren breit. Sophie hatte sich dazu entschieden, sich selbst und ihrem Vater erst einmal ein paar Tage zu geben, um sich wieder zu beruhigen. In dieser Zeit wollte sie sich voll und ganz auf ihren Job konzentrieren. Sie wollte es auf keinen Fall riskieren, dass ihr ihr Privatleben einen Strich durch ihren beruflichen Erfolg machte. Also versuchte sie, jeden Morgen, bevor sie die Pathologie betrat, ihre Gedanken rund um den Streit mit ihrem Vater beiseite zu schieben.
Nach einem langen Arbeitstag kam Sophie erschöpft nach Hause. Als sie im Wohnzimmer an einem gemeinsamen Foto von sich und ihrem Vater vorbeiging, wurde ihr bewusst, dass sie seit mittlerweile genau sieben Tagen nicht mehr miteinander gesprochen hatten. Traurigkeit machte sich in ihr breit. Natürlich war sie immer noch enttäuscht, wie sich ihr Vater ihr gegenüber verhalten hatte, nur weil dieses blöde Fellvieh abgehauen war. Aber ein anderer Teil in ihr, der größere Teil, vermisste auch ihren Vater. Sie wollte nicht, dass sie ab jetzt kein Wort mehr miteinander sprechen würden. Sophie ist ohne ihre Mutter aufgewachsen, sie wollte nicht auch noch ihren Vater verlieren.
Sophie griff nach ihrem Handy und wählte den Kontakt ihres Vaters. Nach wenigen Augenblicken nahm ihr Vater am anderen Ende der Leitung ab:"Hallo?"
"Hallo Papa, ich bin's Sophie", antwortete Sophie nervös. Sie hatte sich zuvor nicht viele Gedanken darüber gemacht, was sie ihrem Vater sagen wollte. Am anderen Ende der Leitung blieb es stumm. Sophie ließ sich davon jedoch nicht beirren. "Ich ähm, ich wollte fragen, wie es dir geht? Also, nein, eigentlich habe ich dich angerufen, weil ich nicht möchte, dass wir weiterhin kein Wort miteinander sprechen."
Sophies Vater brauchte einen Moment, bis er antwortete und atmete ins Telefon aus. "Ich möchte auch nicht, dass wir weiterhin miteinander streiten. Deine Aktion hat mich viel Geld gekostet und ich habe die Katze bis heute noch nicht wiedergefunden. Aber ich bin bereit, das Ganze zu vergessen, wenn du dich entschuldigst."
Sophie schluckte schwer und sie merkte, wie sich wieder die Wut in ihr breit machte. Nach einer Woche Funkstille mit seiner einzigen Tochter, die er angeblich so sehr liebte, hatte ihr Vater weiterhin nichts Wichtigeres im Kopf, als diese blöde Katze zu finden? "Weißt du was? Vergiss es einfach! Ich entschuldige mich ganz bestimmt nicht bei dir, deine Tochter zu sein, die ihren Vater sehen wollte. Und ganz bestimmt entschuldige ich mich nicht bei dir, dass dir deine dämlichen Katzen wichtiger sind als ich!", sie legte auf und warf ihr Telefon auf das Sofa. Nichts ahnend, dass es das letzte Mal gewesen war, dass sie mit ihrem Vater gesprochen hatte.
In dieser Nacht schlief Sophie noch schlechter als zuvor und wachte bereits früh am Morgen auf. Nachdem sie ihren ersten Kaffee getrunken hatte, beschloss sie spontan, auf den Wochenmarkt zu gehen. Sophie war seit einigen Jahren Veganerin. Früher war es noch wesentlich schwerer gewesen, sich vegan zu ernähren. Aber mit den Jahren hatte sich in der Lebensmittelindustrie ein Wandel vollzogen und immer mehr Unternehmen produzierten nun auch vegane Lebensmittel. Und auch der Wochenmarkt profitierte davon. Es gab immer mehr Stände, die vegane Lebensmittel verkauften und Sophie probierte sich dort gerne durch, um neue Geschmäcker zu entdecken. Vielleicht würden ein paar vegane Pralinen dafür sorgen, dass es ihr etwas besser ging.
Als Sophie vor die Haustür trat, rümpfte sie angewidert die Nase. Es roch unverkennbar nach fauligen Lebensmitteln, was jedoch komisch war. Der Bioabfall würde heute nicht abgeholt werden. Erst in drei Tagen. Sie sah auch keine Tonne am Straßenrand stehen, komisch. Vielleicht kam der Gestank aus einer der Wohnungen, in denen ein Fenster geöffnet war. Sophie zuckte mit den Schultern und lief mit großen Schritten ans Ende der Straße.
Auf ihrem Weg zum Wochenmarkt lief sie an einer Dönerbude vorbei. Ein Schwall von Fleischgeruch und abgestandenem Fritteusenöl wehte ihr aus der geöffneten Tür entgegen. Lecker, dachte sich Sophie, wer würde denn freiwillig so etwas essen. Den Gestank konnte man ja noch drei Straßen weiter wahrnehmen.
In immer kleiner werdender Entfernung wurden die ersten Stände des Wochenmarktes sichtbar. Heute schien auch einiges los zu sein, Sophie konnte schon die vielen Stimmen der Besucher hören. Als sie den Rathausplatz betrat, auf dem der Wochenmarkt aufgebaut war, hielt sie kurz inne, um sich zu orientieren. Aus ihren vorherigen Besuchen wusste sie, dass die Stände, die vegane Lebensmittel verkauften, etwas weiter hinter standen. Sie musste sich also zuerst einen Weg durch die nicht-veganen Stände bahnen. Überall dampfte und brutzelte es aus den vielen Pfannen und Öfen. Hungrig streckten die Besucher ihre Hände dem frisch zubereiteten Essen entgegen.
Nachdem sich Sophie den Weg durch zwei Gässchen des Wochenmarktes gebahnt hatte, erkannte sie ihren Lieblingsstand. Es war ein Stand aus Holz, mit einem Dach aus roten Ziegeln. Oben am Dach war ein großes Schild angebracht in Form einer Praline. In weißer, geschwungener Schrift stand darauf "Olli's veganes Pralinenparadies". Als Olli Sophie erkannte, lächelte er ihr breit entgegen und rief:"Hey Kleines! Ich wusste, auf dich ist Verlass. So wie immer?"
"Hi Olli, wie geht's dir? Alles klar? Ja, so wie immer", Sophie lächelte ihm entgegen. Seit sie das erste Mal an Ollis Stand seine selbst gemachten veganen Pralinen probiert hatte, kam sie jedes Mal zu ihm, wenn sie den Wochenmarkt besuchte. Während Sophie darauf wartete, dass Olli ihre Pralinen verpackte, hörte sie hinter sich ein kleines Kind seinen Vater fragen:"Papiiii, darf ich von deinem Wurstbrötchen auch mal beißen?"
Sophie lächelte und dachte sich, du kleines Dummerchen, das ist kein Wurstbrötchen, das ist Steak und keine Wurst. Außerdem ist das Brötchen ziemlich verkohlt und sicher nicht heute Morgen frisch gebacken worden. Sie stockte. Langsam drehte sie sich in die Richtung, aus der die Stimme des Kindes kam und erkannte in der Hand des Vaters ein ziemlich dunkles Brötchen, das schon einige schwarze, verkohlte Stellen aufwies. Und in diesem Brötchen steckte - ein Steak. Wie konnte Sophie das wissen? Sie hatte schon vor so vielen Jahren aufgehört, tierische Produkte zu sich zu nehmen, dass sie bereits nicht mehr wusste, wie Fleisch schmeckte oder roch. Und wie konnte sie wissen, dass das Brötchen nicht frisch und total verbrannt war? Hatte sie einfach gut geraten? Aber sie konnte den verkohlten Geruch zu gut wahrnehmen. Wieso aß dieser Mensch das überhaupt? Wenn das Brötchen genau so schmeckte, wie es roch, dann musste es wirklich ungenießbar sein.
"Hey Kleines, hier, deine Pralinen, lass sie dir schmecken."
Schnell bezahlte Sophie ihre Pralinen, schnappte sich die Tüte und eilte davon. Auf dem Weg zum Ausgang des Wochenmarktes nahm sie immer mehr Gerüche wahr. Ohne hinzusehen, wusste sie plötzlich, welche Lebensmittel die einzelnen Stände verkauften. Besonders intensiv fielen ihr die Stände mit Fleisch- und Fischprodukten auf. Sophie bekam Kopfschmerzen von den vielen unterschiedlichen Gerüchen. Mit schnellen Schritten machte sie sich auf den Weg zurück zu ihrer Wohnung. Aber auch dort fielen ihr plötzlich die vielen Gerüche auf. Die Mülltonnen, die in den Innenhöfen der Gebäude standen, die Hinterlassenschaften von Hunden, die einzelnen Dämpfe aus Küchen, die sich ihren Weg durch die geöffneten Küchenfenster bahnten. Sie hatte sogar das Gefühl, dass die vorbeifahrenden Autos intensiver rochen als zuvor.
Als Sophie endlich zu Hause ankam, ließ sie erschöpft die Wohnungstür hinter sich zufallen und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Was war denn das gerade? Noch immer dröhnte ihr Kopf von den vielen unterschiedlichen Gerüchen. Sie ging ins Wohnzimmer und ließ sich auf ihr Sofa fallen und öffnete die Tüte mit den Pralinen. Ein modriger Geruch schlug ihr entgegen. Hatten die schon immer so gerochen? Angewidert knüllte sie die Tüte wieder zusammen und warf sie vor sich auf den Tisch. Ihr war der Appetit eindeutig vergangen.
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Der Fluch der Khepri
FantasiSophie wuchs unter keinen guten Bedingungen auf. Ihre Mutter war noch eine Schülerin, als sie Sophie direkt nach der Geburt vor der Haustür ihres Vaters absetzte und sich aus dem Staub machte. Ihr Vater war selbst fast noch ein Teenager. Er hatte di...