5 | Heißhunger

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Auch in den folgenden Tagen erholte sich Sophies überempfindliche Nase nicht. Die Chemikalien, mit denen sie im Labor arbeitete, stachen ihr mehr als sonst in die Nase. Manchmal wurde ihr sogar übel von den Gerüchen und sie hastete schnell zur Toilette. Zuerst dachte sie, eine Erkältung wäre im Anmarsch, aber außer der überreizten Nase bekam sie keine weiteren Symptome.

In der Mittagspause war Sophie meistens die Einzige, die nichts aß. Die mitgebrachten Speisen der anderen verdarben ihr meist den Appetit. Belegte Brote, die normalerweise appetitlich dufteten, rochen jetzt modrig und faul. Lustlos scrollte Sophie in ihrem Handy und begann danach zu suchen, was es mit ihrer empfindlichen Nase auf sich haben könnte. Ein Foreneintrag gewann ihre Aufmerksamkeit. Der Verfasser des Eintrags berichtete davon, wie auch er eine immer empfindlichere Nase bekommen hatte. Zuerst fing sie an zu jucken, durch das ständige Kratzen war die Nase übersät mit kleinen, blutenden Wunden. Durch diese Wunden wiederum war die Nase nicht ausreichend geschützt vor aggressiven Gerüchen. Der Verfasser berichtete, dass er daraufhin einen Allergietest durchführen ließ, der positiv auf einen bestimmten Stoff anschlug. Er musste daraufhin seine Arbeit aufgeben und sich etwas anderes suchen, bei dem er mit diesem Stoff nicht in Kontakt kam. Seine Nase erholte sich schnell.

Sophie bekam ein unangenehmes Flattern in der Magengegend. Was, wenn sie auch plötzlich gegen irgendetwas allergisch war? Sie überlegte, wann ihr zum ersten Mal aufgefallen war, dass ihre Nase so stark auf Gerüche reagierte. War das am Wochenmarkt gewesen? Als sie ohne hinzuschauen wusste, was der Mann mit seinem kleinen Kind gerade aß? Nein, Sophie erinnerte sich. Es war schon früher. Sie erinnerte sich daran, wie sie aus ihrer Wohnung kam und den fauligen Gestank von Biomüll wahrnahm, obwohl sie nirgends in ihrer Nähe volle Tonnen entdecken konnte. Ein kleines bisschen Erleichterung machte sich in ihr breit. Das bedeutete, dass sie nicht auf irgendeine Chemikalie reagierte. Sie musste also hoffentlich nicht ihren Job aufgeben, so wie der Verfasser des Foreneintrags. Dann war es wahrscheinlicher, dass es irgendetwas in ihrer Wohnung oder davor war, was ihre Nase seit neuestem so reizte. Sophie beschloss, dass sie sich einen Termin beim Betriebsarzt geben lassen würde, um sich auf ein paar Allergien testen zu lassen. Mit ein bisschen Glück, würde sich der Übeltäter vielleicht schnell finden lassen und ihre Nase hatte mit einem passenden Allergiemittel keinen Grund mehr so überreizt zu sein.

"Hallo Sophie, schön Sie zu sehen. Ich hoffe, es geht Ihnen gut soweit?", begrüßte sie der Arzt Dr. Andreas Wittel.

Was für eine Frage, dachte sich Sophie. Wenn es mir gut gehen würde, wäre ich wohl kaum hier. Sie hatte noch in derselben Woche, am Freitag, einen Termin bei Dr. Wittel bekommen. Der Zustand ihrer Nase hatte sich weder gebessert noch verschlechtert. Allerdings schlug sich die ständige Übelkeit, die sie von den ganzen Gerüchen häufig bekam, auf ihren Appetit nieder.

"Dann erzählen Sie doch mal, was Sie zu mir führt", Dr. Wittel zog sich seinen Stuhl zu sich heran und ließ sich darauf nieder. Mit seinen braunen Augen musterte er Sophie ruhig. Sie begann zu erzählen, von dem fauligen Gestank vor ihrer Wohnung, von den vielen unterschiedlichen Gerüchen auf dem Wochenmarkt und wie ihre empfindliche Nase ihre Arbeit in der Pathologie beeinflusste. Sie ließ auch den Foreneintrag, den sie im Internet gefunden hatte, nicht weg. Als sie fertig war mit erzählen, machte Dr. Wittel noch eine kurze Pause, bevor er ihr antwortete:"Ja, in der Tat, Ihre Erzählungen könnten auf eine Allergie hindeuten. Am besten ist es, wenn wir für den Anfang die häufigsten Allergieauslöser testen und uns so langsam voran tasten."

Eine halbe Stunde später verließ Sophie mit einer Menge an kleinen Einstichstellen an ihrem Unterarm die Räumlichkeiten von Dr. Wittel. Keine der häufigsten Allergieauslöser hatte bei ihr angeschlagen. Dr. Wittel hatte sie auf alle möglichen Gräser, Hausstaub, Milben, Katzen- und Hundehaare getestet, aber alles war negativ. Er hatte sie vorerst nach Hause geschickt. Sie würden mit weiteren Tests zu einem späteren Zeitpunkt fortfahren, wenn sich ihre Haut etwas erholt hatte vom heutigen Allergietest.

Frustriert schlenderte Sophie die Straße entlang. Obwohl sie eigentlich froh sein sollte, gegen nichts, was heute getestet wurde, allergisch zu sein, war sie enttäuscht. Das bedeutete, dass sie weiterhin irgendwie mit ihrer empfindlichen Nase klar kommen musste. Zudem machte sich so langsam ihre anhaltende Appetitlosigkeit bemerkbar. Ihr Körper schrie vor Hunger und das ein oder andere Kilo war sicher auch schon von ihren Rippen gepurzelt.

Heute war wieder Wochenmarkt. Abgesehen davon, dass Sophie wusste, an welchem Tag der Markt sich auf dem Rathausplatz aufbaute, konnte sie wieder die vielen verschiedenen Gerüche wahrnehmen. Sie wollte schon beschleunigen, um so schneller sie den Gerüchen entkam, desto weniger wurde ihr übel. Doch plötzlich mischte sich unter die vielen Gerüche ein neuer Geruch. Sie konnte nicht erkennen, was sie da roch, aber ihr Magen rebellierte sofort mit lautem Knurren. Es roch einfach himmlisch.

Wie ferngesteuert drehte sich Sophie um und folgte dem Geruch. Das laute und schmerzhafte Knurren ihres Magens verdeutlichte ihr, wie hungrig sie eigentlich war. Sie beschleunigte ihre Schritte. Ohne zu wissen, was sie da roch und wo dieser Geruch herkam, schien sie instinktiv zu wissen, wo sie hin musste. Die Menschen, an denen sie vorbeilief, nahm sie gar nicht wahr, es waren graue Schatten, die kein klares Bild ergaben. Sophie hatte nur diesen Duft in der Nase und konnte an nichts anderes als Essen denken.

Wie aus einer Art Trance erwachte sie und fand sich direkt auf dem Wochenmarkt vor dem Stand wieder, der allerlei Fischbrötchen verkaufte. Irritiert blickte sich Sophie um, doch in der näheren Umgebung war kein veganer Imbissstand zu sehen. Wieso zur Hölle stand sie vor diesem Fischstand? Sie war Veganerin! Aus Überzeugung verabscheute sie jegliche tierischen Produkte, logischerweise gehörte dazu auch Fisch. Aber der Geruch, der von der gekühlten Theke mit frischem Fisch ausging, war einfach unwiderstehlich. Sophies Magen knurrte weiter und machte ihr deutlich, was er wollte. Ehe sie es sich versah, hatte sie sich ein doppeltes Matjesfilet Brötchen bestellt. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen, sie konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Mit spitzen Fingern zupfte sie die Tomaten, den Salat und die Zwiebeln aus dem Brötchen und warf sie in den Mülleimer. Dann nahm sie das Matjesfilet in die Finger und schlang es gierig hinunter. Das Brötchen warf sie dem Gemüse hinterher in den Mülleimer. Zufrieden leckte sie sich mit der Zunge über die Lippen und spürte, wie sich eine wohlige Wärme in ihrem Bauch ausbreitete.

Als Sophie klar wurde, was sie da gerade getan hatte, senkte sie beschämt den Blick. Obwohl niemand von den Marktbesuchern wissen konnte, dass sie eigentlich überzeugte Veganerin war, hatte sie das Gefühl, dass sie von allen Seiten vorwurfsvolle Blicke kassierte. Sie schämte sich auch vor sich selbst. Was zur Hölle war das gerade? Sie hatte keinerlei Kontrolle mehr über sich gehabt. Wie von Sinnen hatte sie dieses Fischfilet in sich hinein gestopft.

Auf dem Rückweg zu ihrer Wohnung hatte sie mit ihrem schlechten Gewissen zu kämpfen. Was auch immer das gerade war, es würde niemals wieder passieren. Das schwor sich Sophie aus tiefstem Herzen. Das war ein einmaliger Ausrutscher.

Doch wie sehr sich Sophie irrte, konnte sie noch nicht ahnen.

Der Fluch der KhepriWo Geschichten leben. Entdecke jetzt