19 | Vorhersagen

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Sophie und Toni teilten sich die Reste einer gegrillten Ente. Sie entspannte sich mit der Zeit, als sie merkte, dass die anderen Katzen kein Interesse an ihr oder Toni hatten. Jeder war nur zum Fressen hier, zum Überleben.

"Sophie", fing Toni an. "Darf ich dich was fragen?"

"Klar", antwortete sie und schluckte ein Stückchen Ente runter.

"Diese Träume, die du da hast. Wie fühlen sich die eigentlich an?"

Sophie überlegte einen Moment und suchte nach den richtigen Worten, bevor sie antwortete: "Eigentlich wie ein ganz normaler Traum. Vielleicht ein bisschen realistischer. Aber ich merke während dem Traum nicht, dass es ein Blick in die Zukunft ist."

Während sie sich weiterhin noch ein bisschen über ihre Träume unterhielten, bemerkten sie nicht, dass neben ihnen eine Katze saß. Die fremde Katze fraß unauffällig ihren Teller leer, jedoch war das linke Ohr ganz leicht in die Richtung von Sophie und Toni gedreht, sodass sie jedes Wort mithören konnte.

Auf einmal stand die Katze auf und lief zu Sophie und Toni herüber. Ihr Gang war etwas schwerfällig und wackelig, obwohl die Katze weder dick noch alt war. Bei Sophie und Toni angekommen, sagte sie mit säuselnder und gedämpfter Stimme: "Du hast keine Träume, Liebes."

Sophie blickte irritiert von ihrem Teller auf. Sie musterte die fremde Katze, die plötzlich neben ihnen stand. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie sich die Katze ihnen näherte. Sophie machte große Augen, um dann geniert wieder auf ihren Teller zu starren. Wie unhöflich von ihr! Die fremde Katze, die sie gerade angesprochen hatte, hatte kein Fell. Es war eine Nacktkatze. Sophie hatte noch nie eine lebendige Nacktkatze gesehen. Die Haut der Katze war Anthrazitgrau. Es war ein befremdlicher Anblick, eine Katze ohne Fell zu sehen. Es fühlte sich an, wie einen Menschen ohne Hose zu sehen. Sophie sammelte sich wieder und blickte der fremden Katze fest in die schönen, klaren, blauen Augen.

"Oh hey, Bo!", rief Toni. "Schön dich zu sehen. Lang ist's her, dass wir uns zuletzt gesehen haben."

Sophie blickte überrascht zwischen Toni und der fremden Katze hin und her. Die beiden kannten sich? Wenn dieser Bo zu Toni's Freundeskreis gehörte, dann konnte sich Sophie entspannen.

"Darf ich dir meine Begleitung vorstellen? Das ist Sophie", sagte Toni an Bo gewandt. Der nickte ihr nur stumm zu und musterte sie.

Sophies Neugier war geweckt und sie fragte Bo: "Hi Bo. Du hast gesagt, ich habe keine Träume. Wie meinst du das?"

Mit einem Plumps ließ sich Bo mit seinem Hinterteil unbeholfen auf den Boden nieder. Und dann antwortete er: "Ich habe davon schonmal gehört. Ich selbst habe es noch nie erlebt. Aber weißt du, es gibt Geschichten. Geschichten, die man kleinen Kätzchen erzählt, damit sie in einer kalten Gewitternacht keine Angst haben und ruhig einschlafen."

"Geschichten? Komm schon, Bo. Für sowas haben wir wirklich keine Zeit", schaltete sich Toni dazwischen.

Die Nacktkatze zuckte mit den Ohren und erwiderte: "Na schön, dachte nur, es interessiert euch. Ich wünsche euch noch einen schönen Tag." Und damit wollte Bo sich gerade umdrehen und zu seinem Teller zurücklaufen, da rief ihm Sophie hinterher: "Warte Bo! Also, um ehrlich zu sein, würde ich es gerne hören."

Bo kam wieder zurück und an seinem Gesichtsausdruck war deutlich zu erkennen, dass er sich freute, dass sich jemand für seine Geschichte interessierte. Sophie konnte sich nicht vorstellen, dass Bos Geschichte ihr irgendwie weiterhelfen könnte. Aber wenn es auch nur eine kleine mögliche Erklärung für ihre seltsamen Träume gab, dann wollte sie die unbedingt erfahren.

"Wie gesagt, ich selbst habe noch nie solche Träume gehabt. Aber ich habe schon von Katzen gehört, denen es wohl so ergangen ist wie dir, liebe Sophie. Die Geschichten erzählen, dass wir nur glauben, dass wir träumen. Aber eigentlich sind wir wach und erhaschen einen kleinen Einblick in die Zukunft einer anderen Katze. In den Geschichten wird von Vorhersagen gesprochen."

"Und was sollen diese Vorhersagen bringen?", fragte Sophie Bo.

"Das weiß ich nicht genau. In den Geschichten wird erzählt, dass es darum geht, anderen Katzen, die in Not sind, zu helfen. Es ist wie eine Gabe."

"Eine Gabe?", Sophie blickte Bo ungläubig an. "Es fühlt sich nicht gerade wie eine Gabe an. Eher wie eine Last."

"Tut mir Leid, kleine Sophie. Das ist alles, was ich weiß. Mir wurden diese Geschichten nie erzählt, als ich noch ein kleines Kätzchen war."

Toni und Bo unterhielten sich noch eine Weile. Doch Sophie hörte nicht zu. Resigniert starrte sie auf den Boden. Als Bo auf sie zukam und berichtete, dass er wüsste, was mit Sophie los war, keimte Hoffnung in ihr auf. Sie hatte die Hoffnung, dass Bo ihr helfen könnte, wieder ein Mensch zu sein. Doch so schnell wie sie kam, zerschlug sich die Hoffnung auch wieder und Traurigkeit machte sich in ihr breit.

Toni schien das zu bemerken und beendete das Gespräch mit Bo schnell und bedeutete Sophie, dass sie sich wieder auf den Weg zurück zum Fuchsbau machen würden. Sophie war erleichtert. Der Fuchsbau war zwar weit entfernt davon, ein Zuhause für Sophie zu sein, aber er war so etwas wie ein sicherer Zufluchtsort. Und das musste für den Anfang genügen.

Sophie legte sich in ihre Erdkuhle, die sich mit der Zeit am Boden gebildet hatte, weil sie immer an derselben Stelle schlief. Und auch Toni rollte sich in seiner Kuhle zusammen. Mit einem kurzen Blick zu Sophie, legte er den Kopf auf seine linke Pfote und legte seinen Schwanz über seiner Nase ab. Sophie war ihm dankbar, dass sie nicht länger über ihre seltsamen Träume reden musste. Sie wollte einfach nur ihre Ruhe und musste dringend ein bisschen Schlaf nachholen.

Also rollte sich auch Sophie in ihrer Kuhle zusammen und schloss die Augen.

Der Fluch der KhepriWo Geschichten leben. Entdecke jetzt