12 | Toni

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Als Sophie wieder aufwachte, war der Tag schon weiter vorangeschritten. Der Park hatte sich mit Leben gefüllt. Sie blieb noch eine Weile in ihrem Versteck in den Büschen liegen und beobachtete die Szenerie.

Durch die Zweige konnte sie hin und wieder Menschen erkennen, die dicht an ihrem Versteck vorbei liefen. Aber niemand sah sie. Als Sophies Magen schon eine Weile knurrte, beschloss sie, dass es nun an der Zeit war, ihr Versteck zu verlassen und sich auf die Suche nach etwas Essbarem zu machen. Sie wartete noch einen kurzen Moment, um sicherzugehen, dass gerade niemand in der Nähe war. Dann duckte sie sich unter den Zweigen durch, hinaus ins Freie. Sofort scannte sie die Umgebung, aber alles war ruhig.

Niemand würde Sophie besondere Aufmerksamkeit schenken. Alle würden sie für eine normale Katzen halten, niemand wusste davon, dass sie eigentlich ein Mensch war. Trotzdem zog sie es vor, immer in der Nähe der Büsche entlang zu laufen, falls es doch notwendig sein sollte, sich schnell zu verstecken.

Plötzlich nahm ihre empfindliche Nase verschiedene Gerüche wahr. Sehr gute Gerüche. Die Art von Gerüchen, die ihren Magen sofort zum Knurren brachten. Hier in der Nähe musste es irgendwo etwas zu essen geben. Aber wie sollte sie das herausfinden? Sie kannte sich in diesem Park nicht aus. Sophie beschloss, sich auf ihre neu erlangten Sinne zu verlassen. Katzen hatten ein ausgezeichnetes Gehör und einen wunderbaren Geruchssinn. Sie schloss ihre Augen, öffnete leicht ihr Maul und sog die Luft tief in ihre Lungen. Instinktiv schien sie zu wissen, in welche Richtung sie laufen musste und tatsächlich, schon bald hatte sie die Quelle der guten Gerüche ausfindig gemacht.

Auf der Wiese, ein kleines Stückchen weiter vorne, saß auf einer rot-weiß-karierten Decke ein junges Pärchen und machte ein Picknick. Sie saßen mit dem Rücken zu Sophie, weshalb sie das Geschehen unbemerkt beobachten konnte. Auf der Picknickdecke waren verschiedene Tupperdosen geöffnet. In einer Dose konnte Sophie kleine Tomaten mit Mini-Mozzarella-Kugeln erkennen, die abwechselnd auf Zahnstocher aufgespießt waren. Daneben war eine Dose mit Trauben und Käsestückchen. Und aus der dritten Dose kam wohl der mit Abstand verlockendste Duft. Die Dose war riesig und bis oben hin gefüllt mit Häppchen, die entweder mit köstlich duftender Wurst oder Räucherlachs belegt waren.

Sophie lief das Wasser im Maul zusammen. Sie hatte ihren Entschluss gefasst, sie wollte sich eins von diesen köstlichen Häppchen schnappen. Jetzt musste sie nur noch auf die passende Gelegenheit warten, um sich unbemerkt an die Dose anschleichen zu können. Und kaum hatte sie diesen Gedanken zu Ende gedacht, zog der Freund seine Freundin zu sich auf die Decke und begann sie zu küssen. Die beiden waren so sehr damit beschäftigt, ihre Zärtlichkeiten miteinander auszutauschen, dass sich Sophie sicher kurz anschleichen könnte, um ein Häppchen aus der Dose zu stehlen.

Sophie sammelte sich ein letztes Mal - jetzt oder nie. Sie hielt den Atem an und setzte leise eine Pfote vor die andere. Das Pärchen war weiterhin mit sich selbst beschäftigt und Sophie näherte sich der Dose mit dem Räucherlachs immer mehr. Nur noch ein kleines Stückchen. Doch dann fing das Mädchen auf der Decke plötzlich an zu kichern und sagte: "Hey, jetzt warte mal. Wir sind doch extra zum Picknicken hergekommen. Lass uns zuerst mal etwas essen."

Sophie erstarrte zur Salzsäule, kurz bevor sie die Tupperdose erreicht hatte. Doch es war zu spät, das Mädchen drehte sich um, sah Sophie, verstand innerhalb weniger Millisekunden, was Sophie vor hatte und sofort verfinsterte sich der Blick des Mädchens. Das Mädchen verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse und fauchte Sophie an und wedelte dabei mit ihren Armen in der Luft herum. Nun drehte sich auch ihr Freund zu Sophie um, um zu sehen, was los war. Auch er schien wenig begeistert von Sophies Anwesenheit zu sein.

Endlich gehorchten Sophies neue Beine ihr wieder und sie drehte sich um und rannte so schnell sie konnte, auf ihren wackeligen Beinen davon, als plötzlich etwas Großes und Schweres neben ihr im Gras landete. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass einer der beiden mit einem Schuh nach ihr geworfen hatte. Entsetzt legte Sophie noch einen Zahn zu und rettete sich in das Gebüsch, in dem sie sich bereits zuvor versteckt hatte.

Zitternd kauerte sie sich dort nieder und blickte sich ängstlich um. Aber es schien so, als würde keiner der Zweibeiner ihr folgen. Plötzlich hörte sie hinter sich ein Rascheln. Panisch drehte sie sich um und stand einer fremden Katze gegenüber.

Die fremde Katze schien Sophies Angst zu erkennen und öffnete sofort das Maul, um zu sagen: "Hey, hey, keine Angst, ist schon gut. Ich tu dir nichts. Wirklich."

Doch Sophies Panik linderte das kein bisschen. Hatte sie gerade ernsthaft eine Katze sprechen hören? Und hatte sie diese obendrein auch noch verstanden?

"Ich habe dich beobachtet, wie du versucht hast, von diesen Zweibeinern etwas zu stehlen", fing die fremde Katze wieder an. "Das hätte ich dir gleich sagen können, dass das nichts wird. Als Straßenkatze hast du keine Chance bei den Zweibeinern. Sie sehen dich als Ungeziefer und nicht als Haus- und Kuscheltier."

Die fremde Katze setzte sich auf ihre Hinterbeine und fing an, ihre rechte Vorderpfote zu lecken, während ihr Blick auf Sophie ruhte. "Ich bin übrigens Toni. Und wer bist du?"

Sophie entspannte sich etwas. Von diesem Toni schien tatsächlich keine Gefahr auszugehen. Allerdings war seine Bemerkung über Sophies missglückten Diebstahl auch ziemlich arrogant gewesen. Sie kniff die Augen zusammen und antwortete: "Ich wüsste nicht, was dich das angehen sollte."

Tonis hellblaue Augen flackerten kurz traurig auf, als Sophie ihn so unhöflich anpflaumte. Aber dann schien er sich gleich wieder zu fangen und plapperte fröhlich drauf los. "Also wenn du möchtest, kann ich dir zeigen, wo du etwas zu essen findest. Bei denen da drüben auf jeden Fall nicht."

Sophie war immer noch in ihrem Stolz gekränkt. Auch wenn sie zugeben musste, dass sie möglicherweise Tonis Hilfe gebrauchen könnte. Aber wie sollte sie ihm das erklären, dass sie eigentlich selbst bis vor kurzem einer dieser Zweibeiner war? Selbst für Katzen dürfte sich das ziemlich verrückt anhören. Sie musterte Toni kurz. Er war ein hübscher Kater. Viel zu hübsch für die Straße. Er hatte beiges, flauschiges Fell und ruhige, hellblaue Augen. Sophie beschloss, diesen hellblauen Augen nicht zu vertrauen. Was, wenn das nur eine Falle war?

Sie stand auf und während sie sich wieder durch die Zweige des Busches zwängte, rief sie Toni über die Schulter zu: "Kümmere dich lieber um deinen eigenen Kram und lass mich in Ruhe!"

Der Fluch der KhepriWo Geschichten leben. Entdecke jetzt