14 | Der erste Traum

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Sophie lief an einer Straße entlang. Zur Sicherheit streifte sie am Seitenstreifen durch das hohe Gras, so war sie mit ihrem goldenen Pelz nicht so leicht zu erkennen. Sie kannte diese Straße nicht, es musste eine Straße sein, die aus der Stadt raus, aufs Land führte. Sie sah sich um, niemand außer ihr war hier, sie war ganz allein. Sie öffnete leicht das Maul und sog die Luft ein. Der Duft des Grases und verschiedener Blumen stieg ihr in die Nase.

Da vernahm sie hinter sich ein tiefes Grollen. Sie blickte hoch zum Himmel. War da etwa ein Gewitter im Anmarsch? Aber der Himmel war sternenklar. Das Grollen kam immer näher und wurde immer lauter. Sophie entfernte sich noch ein Stückchen weiter von der Straße und tiefer ins hohe Gras. Sie hatte Angst, was war das bloß für ein tosendes Geräusch?

Plötzlich erfasste Sophie ein Lichtstrahl und das Grollen wurde so laut, dass sie das Bedürfnis hatte, sich die Ohren zuzuhalten. Rasend schnell fuhr ein Auto an Sophie vorbei und so schnell wie es aufgetaucht war, war es auch schon wieder verschwunden und ließ Sophie alleine in der dunklen Nacht zurück.

Erschrocken atmete Sophie aus. Sie selbst fuhr auch ein Auto, zumindest bevor sie sich in eine Katze verwandelt hatte. Aber niemals hatte sie sich Gedanken darüber gemacht, wie Autos von Katzen wahrgenommen wurden. Hätte sie das Grollen des Motors zu spät gehört und wäre zu dicht am Straßenrand gelaufen, hätte sie keine Möglichkeit gehabt, dem Auto rechtzeitig auszuweichen. Plötzlich verstand sie, welche Gefahr von Autos für Katzen ausging. Sie beschloss, für den Rest des Weges lieber im hohen Gras zu laufen, außerhalb der Reichweite der Autos.

Als Sophie bereits eine Weile unter dem sternenklaren Nachthimmel gelaufen war, erkannte sie ein Stück vor sich eine Gestalt. Sie kniff die Augen zusammen. Es war eine Katze. Sophie war noch nie einer anderen fremden Katze außer Toni begegnet. Also verlangsamte sie ihr Tempo und achtete darauf, so leise wie möglich zu sein. Sie wollte die Aufmerksamkeit der Katze vor sich nicht wecken. Vor lauter Anstrengung bloß kein Geräusch zu machen, übersah Sophie die leere Chipstüte direkt vor sich und bevor sie es verhindern konnte, trat sie mit ihrer rechten Pfote auf die Tüte, die ein ohrenbetäubendes Knistern in der Stille der Nacht machte.

Sophie hielt den Atem an und versuchte sich so gut es ging im hohen Gras zu ducken. Aber die fremde Katze vor ihr drehte sich nicht um. Sie lief einfach weiter, als hätte sie das Knistern der Chipstüte überhaupt nicht gehört. War das ein Trick? Erst bei genauerem Hinsehen, konnte Sophie erkennen, dass die Katze humpelte und einen sehr gebrechlichen Gang hatte. Auch ihr Fell glänzte überhaupt nicht mehr, sondern stand der Katze struppig in alle Richtungen davon. Sophie dämmerte es. Die Katze vor ihr musste schon sehr alt sein. Möglicherweise hatte sie Sophie tatsächlich nicht gehört.

Sophie entspannte sich ein bisschen, ließ sich aber trotzdem ein gutes Stück zurückfallen. Wenn die Katze wirklich taub war und schon sehr alt, dann wollte Sophie sie nicht erschrecken. Da vernahm Sophie wieder das tiefe Grollen eines noch weit entfernten Autos. Dieses empfindliche Gehör hatte tatsächlich auch Vorteile. Wie bereits bei dem ersten Auto, das an ihr vorbeifuhr, wanderte Sophie noch weiter ins hohe Gras. Die alte Katze vor ihr tat das nicht. Sie blieb auf ihrem Weg, viel zu dicht am Straßenrand. Wenn sie nicht aufpasste, konnte sie von dem herannahenden Auto erfasst werden.

Sophie fasste einen Entschluss und rief: "Achtung, ein Auto von hinten!"

Doch wie sie bereits vermutet hatte, schien die alte Katze nichts mehr zu hören. Nicht einmal ihre flauschigen Ohren drehten sich nach hinten in Sophies Richtung. Das Auto kam immer näher und Sophie begann schneller zu laufen. Sie musste es unbedingt schaffen, vor dem Auto bei der alten Katze zu sein.

Die Straße und der Seitenstreifen am Rand lagen plötzlich in gleißendem Licht der Autoscheinwerfer. Der Lärm wurde immer lauter und Sophie beschleunigte ihre Schritte, während die alte Katze vor ihr Anstalten machte, die Straße überqueren zu wollen. Das ist jetzt nicht dein Ernst, dachte Sophie. Sie fing nochmal an, der Katze zuzurufen, aber ihre Stimme verlor sich im Tosen des Motors.

Und plötzlich passierte das unvermeidbare. Die alte Katze schwenkte aus nach links, um die Straße zu überqueren. Selbst das grelle Licht der Scheinwerfer schien sie nicht zu sehen. Bevor der Fahrer des Autos rechtzeitig reagieren konnte, prallten der vordere, rechte Reifen und die fremde Katze zusammen. Sophie presste schockiert die Augen zu und wandte den Kopf ab.

Mit keuchendem Atem und pochendem Herzen schreckte Sophie aus dem Schlaf hoch. Panisch sah sie sich um. Doch die Landstraße war verschwunden. Ebenso wie das Auto und die alte Katze. Stattdessen lag sie auf erdigen Boden in einem verlassenen Fuchsbau. Hier hatten Toni und sie Unterschlupf für die Nacht gesucht. Und Sophie war beinahe sofort eingeschlafen, so erschöpft war sie von den Ereignissen ihres ersten Tages als Katze.

Sie wandte den Kopf nach rechts. Dort konnte sie im Dunkeln das beige Fell von Toni erkennen. Sein Körper hob und senkte sich rhythmisch im Schlaf. Sophies Herz pochte immer noch. Es war nur ein Traum gewesen. Sie war in Sicherheit. Keine Landstraße weit und breit. Und auch keine fremden Katzen, die von Autos überfahren wurden.

Sie legte ihren Kopf wieder auf ihren Pfoten ab und schloss die Augen. Und nach kurzer Zeit sank sie in einen traumlosen Schlaf.

Der Fluch der KhepriWo Geschichten leben. Entdecke jetzt