Toni schien genau zu wissen, wo er hin musste. Sophie hingegen gar nicht. Sie hatte sich wirklich viel Mühe gegeben, die Beschreibung von Bo zu verstehen. Aber im Zeitalter von Handys und Navigationssystemen, zumindest für Menschen, war diese Art von Wegbeschreibung nicht mehr notwendig. Also trottete sie neben Toni her und versuchte sich vorzustellen, was an ihrem Ziel auf sie wartete.
Obwohl Sophie noch nicht lange eine Katze war, hatte sie mittlerweile mitbekommen, dass das Leben als Straßenkatze nicht leicht war. Und dass es insgeheim von jeder Katze der Wunsch war, ein liebevolles Zuhause zu finden. Sie fragte sich, wieso so viele Menschen Wert darauf legten, eine exklusive und teure Zuchtkatze zu haben, als diesen armen Seelen auf der Straße zu helfen. Würden sich mehrere Menschen um die armen Katzen in den Tierheimen oder auf der Straße kümmern, gäbe es weniger Elend.
"So. Wir sind da", riss Toni sie aus ihren Gedanken. Die beiden fanden sich vor einem alten Haus wieder. Die roten Ziegel waren schon brüchig und die Fensterläden aus dunklem Holz hingen teilweise nur noch schief in den Angeln. Die drei Stufen, die zur Haustür hoch führten, waren ebenfalls von zahlreichen Rissen übersät, durch die sich Unkraut seinen Weg gebahnt hatte. Obwohl alle Fenster und Türen verschlossen waren, strömte ein unangenehmer und strenger Geruch aus dem Haus auf die Straße.
Sophie sah, wie Toni die Nase rümpfte und fragte: "Was stinkt denn hier so erbärmlich?"
"Das ist Tierkot und Müll", antwortete Toni mit angewidertem Gesicht. "Komm schon, lass uns einen Weg finden, wie wir da reinkommen."
Am liebsten würde sich Sophie die Nase zu halten. Oder noch besser: wieder umdrehen und gehen. Aber wenn sie mehr über ihr Schicksal als Katze herausfinden wollte, musste sie da jetzt durch. "Vielleicht gibt es irgendwo ein gekipptes Fenster, durch das wir hindurch schlüpfen können?", erwiderte sie Toni.
"Gute Idee, lass uns ums Haus gehen."
Bevor sie um die Ecke des Hauses gingen, nahm Sophie wahr, dass vor dem Haus ein Auto stoppte. Sie drehte sich um und erkannte, dass es das Postauto war. Sie bedeutete Toni mit einer Kopfbewegung, dass er warten sollte. "Warte mal, Toni, ich glaube, ich habe einen Weg ins Haus gefunden."
Und tatsächlich, der Postbote öffnete die Schiebetür seines Fahrzeugs und angelte ein Päckchen daraus hervor. Sophies Herz machte einen Hüpfer. Sehr gut! Die Person, die in diesem Haus zu wohnen schien, erwartete ein Paket. Das heißt, sie musste dem Postbote die Tür öffnen. Vielleicht hatten Toni und sie so die Gelegenheit, schnell ins Haus zu schlüpfen.
Die beiden Katzen legten sich im dichten Unkraut auf die Lauer und warteten, bis der Postbote geklingelt hatte. Nach einer Weile öffnete sich die alte Tür mit einem lauten Knarzen und eine alte, voluminöse Dame erschien im Türrahmen.
Der Postbote musste sie bereits kennen, denn er sprach mit sehr lauter Stimme mit ihr und machte sich mit ausladenden Handbewegungen bemerkbar. Die alte Dame musste bereits schwerhörig und halb blind sein. Das würde es hoffentlich leichter machen, ins Haus zu kommen. So mussten sie es nur schaffen, an dem Postboten vorbeizukommen.
Toni warf Sophie einen Blick zu und sagte: "Bereit?"
Mit einem Nicken signalisierte sie ihre Bereitschaft und die beiden sprinteten auf die Tür los. Kurz bevor sie die Haustür erreichten, legten sie nochmal einen Zahn zu. Sie mussten unbedingt schneller sein, als dass der Postbote reagieren konnte. Wenn er sie zu früh bemerkte, konnte er ihnen die Tür vor der Nase zuknallen oder, noch schlimmer, mit dem Fuß nach ihnen treten.
Aber der Postbote schien so damit beschäftigt, der alten Damen klarzumachen, dass er ein Paket für sie dabei hatte, dass er die beiden Katzen gar nicht bemerkte. Toni und Sophie kamen in dem Moment rechts an der Treppe an, als sich der Postbote nach links umdrehte, um wieder zurück zu seinem Auto zu laufen. Diese Chance nutzten sie, um schnell ins Haus zu flitzen, bevor die alte Dame die Tür schließen konnte.
Und tatsächlich, einen Augenblick später und sie wären vor verschlossener Tür gestanden. Mit pochenden Herzen standen Sophie und Toni in einem dunklen Flur. Die alte Dame machte sich schon wieder auf den Weg zurück in irgendein Zimmer. Es dauerte einen Augenblick bis sich Sophies Augen an das dämmrige Licht gewöhnt hatten. Der strenge Geruch, den sie bereits auf der Straße wahrgenommen hatte, war mittlerweile überwältigend. Sie musste ein Würgen unterdrücken.
Mit aufmerksamen Augen sah sie sich im Flur um. Ihr stockte der Atem. Der Fußboden war kaum noch zu erkennen. Überall stapelte sich Müll, leere Gläser, Flaschen, Dosen, alte Zeitungen. Und nun konnte Sophie auch das Miauen hören. Es kam von überall. Das ganze Haus schien zu Miauen.
"Okay", sagte Toni mit unsicherer Stimme. "So etwas habe ich noch nie gesehen. Sei vorsichtig, wo du hintrittst. Lass uns tiefer ins Haus vordringen und nach Freddie suchen. Er muss hier ja irgendwo sein."
Die alte Dame hatte sich zwischen den Müllbergen einen schmalen Weg zurechtgetreten, der von Zimmer zu Zimmer zu führen schien. Die beiden Katzen folgten dem Weg tiefer ins Innere des Hauses. Ungefähr in der Mitte des Flures, erkannte Sophie, dass nach rechts ein Zimmer abgehen musste. Im Zimmer klapperte etwas, was sich wie Geschirr anhörte. Das musste die Küche sein und den Geräuschen nach zu urteilen, befand sich die alte Dame gerade in der Küche.
Vorsichtig lugte Toni um die Ecke, um sicherzugehen, dass die Luft rein war. Mit einem Nicken an Sophie signalisierte er, dass alles in Ordnung war. Sie liefen weiter den Flur entlang. Als Sophie an der Küche vorbeikam, traf sie fast der Schlag. Auch dieser Raum war voll mit Müll und überall standen Töpfe mit verschimmelten Essensresten herum. Die alte Dame nestelte gerade an einer Teekanne herum, sie schien Toni und Sophie gar nicht zu bemerken. Sophie lief weiter und stieß plötzlich mit etwas Weichem zusammen.
Vor lauter Entsetzen, wie die alte Dame scheinbar hier wohnte, hatte sie nicht bemerkt, dass Toni vor ihr zum Stehen gekommen war. Sie spürte, dass Tonis ganzer Körper vibrierte und sie nahm die Spannung wahr, die von ihm ausging. Sofort machte sich ein mulmiges Gefühl in ihr breit. War es wirklich die beste Idee gewesen, einfach in ein fremdes Haus einzusteigen? Es gab keine Fluchtmöglichkeit, die Haustür war verschlossen.
Sophie gab sich einen Ruck und schob sich an Toni vorbei, um den Grund für seine Anspannung zu sehen. Dass das Zimmer, anscheinend das Wohnzimmer, ebenfalls bis fast unter die Decke zugemüllt war, überraschte Sophie schon gar nicht mehr. Und dann erkannte sie den Grund für Tonis Reaktion.
Die beiden Katzen wurden von dutzenden Augenpaaren beobachtet. Von überall. Zwischen den Müllbergen, auf einem Stapel von Kartons, aus Schränken, bei denen die Türen geöffnet waren, von Schränken herunter. Die Katzenaugen waren einfach überall. Sophie versuchte schnell zu zählen, aber nach vierzehn Katzen hörte sie auf. Plötzlich wurde ihr bewusst, was sie und Toni hier sahen. Sie kannte das Phänomen aus dem Fernsehen. Animal Hoarding hatten sie es dort genannt.
Es handelte sich hierbei meist um psychisch kranke Menschen, die einen furchtbaren Schicksalsschlag hinter sich hatten und die Kontrolle über ihr Leben verloren. Sie verloren die Fähigkeit, sich von Dingen zu trennen, auch wenn es sich dabei um Müll handelte. Sie verloren ihre ganze Lebensfreude und wurden antriebslos. Manche von ihnen nahmen Tiere auf, zum Beispiel Katzen, die aber nicht kastriert waren. Und so vermehrten sich die Tiere immer weiter und wurden immer mehr. Bis die Wohnung der Betroffenen im völligen Chaos versank.
Plötzlich erhob sich eine grau getigerte Katze und sprang von ihrem Versteck auf einem Wohnzimmerschrank herunter. Mit wachsamen Augen näherte sie sich Sophie und Toni. Blieb jedoch mit einem Sicherheitsabstand auf ein paar umgedrehten Wäschekörben sitzen und fragte: "Wer seid ihr? Und was wollt ihr hier?"
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Der Fluch der Khepri
FantasySophie wuchs unter keinen guten Bedingungen auf. Ihre Mutter war noch eine Schülerin, als sie Sophie direkt nach der Geburt vor der Haustür ihres Vaters absetzte und sich aus dem Staub machte. Ihr Vater war selbst fast noch ein Teenager. Er hatte di...