3 | Der Unfall

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Sophie trat durch die Tür, die das Vorzimmer vom restlichen Teil des Hauses trennte und verschloss diese gleich wieder. Denn sofort kamen die ersten Katzen angerannt, die eine Möglichkeit zur Flucht sahen. Sophie sah sich in dem Zimmer um, in dem sie sich gerade befand. Es war die Küche. Zu ihrer Linken ließ sich noch der große Esstisch erahnen, der nun aber fast vollständig mit Dosen mit Katzenfutter bedeckt war. Sophie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal an diesem Tisch Platz genommen hatte. Schon seit ihrer Kindheit hatten ihr Vater und sie immer im Wohnzimmer auf dem Sofa gegessen. Aber sie hatte den Eindruck, dass der Tisch nun noch voller von Katzenfutter war. Und auch der Rest der Küche sah nicht besser aus. Die Arbeitsflächen der Küche waren ebenfalls zugestellt mit Futter für die Katzen. An der Wand zu ihrer Rechten standen einige Futternäpfe mit Futter. Ein unangenehmer Geruch ging davon aus. Sophie rümpfte die Nase und schob vorsichtig mit dem Fuß ein paar Katzen auseinander, damit sie ins Wohnzimmer gehen konnte.

Doch auch hier war nichts von ihrem Vater zu sehen. Dafür glubschten sie von den zwei Kratzenbäumen im Raum noch mehr Katzen mit ihren großen Pupillen an. In der Luft hing ein modriger Geruch. Es wurde schon lange nicht mehr gelüftet. Sophies Blick gleitete auf die gegenüberliegende Seite des Raumes und blieb an der Tür zum Balkon hängen. Die Tür war mit einem Schloss versehen und den dazugehörigen Schlüssel bewahrte ihr Vater sorgfältig auf. Als Sophie noch ein kleines Mädchen war, durfte sie niemals im Garten spielen, den man nur vom Balkon aus betreten konnte. Die Tür war stets verschlossen, da auf keinen Fall eine der Katzen entwischen durfte. Sophie seufzte, daran hatte sich wohl nichts geändert.

Sophie wandte sich nach rechts um in Richtung ihres alten Kinderzimmers. Früher hatte ihr Vater im Wohnzimmer auf dem Sofa geschlafen und sie hatte das kleine, angrenzende Zimmer bekommen. Jetzt wo Sophie ausgezogen war und auf eigenen Beinen stand, hatte sich ihr Vater das Zimmer genommen. Die Tür war jedoch geschlossen. War ihr Vater überhaupt zu Hause? Sophie blieb vor der Tür stehen und klopfte an. Dann trat sie durch die Tür und sofort stoben mindestens fünf Katzen panisch auseinander und suchten irgendwo Unterschlupf.

"Mensch Sophie! Du hast die Neuankömmlinge erschreckt. Schnell, komm rein und mach die Tür wieder zu", rief ihr Vater aufgebracht. Ihr Vater saß im Schneidersitz auf seinem Bett und hatte offensichtlich versucht, das Vertrauen der Katzen zu gewinnen.

"Hallo Papa. Auch schön dich zu sehen, mir geht es gut, vielen Dank der Nachfrage", antwortete Sophie genervt. "Sag mal, sind das etwa schon wieder mehr Katzen geworden? Wie viele möchtest du eigentlich noch aufnehmen, bevor jemand Wind davon bekommt, was du hier treibst?"

"Jetzt übertreib mal nicht, Sophie. So viele sind es jetzt auch wieder nicht. Und sie bringen gutes Geld. Das sind echte Rassekatzen. Siehst du die eine da, hinter dem Wäschekorb? Die geht locker für tausend Euro über den Tisch."

"Toll. Ich hoffe, du weißt, was du da tust und dir ist weiterhin bewusst, dass das illegal ist."

Sophies Vater tat ihren Tadel mit einer Handbewegung ab. Mit einer weiteren lud er sie dazu ein, sich zu ihm aufs Bett zu setzen. "Komm, setz dich zu mir. Ich stelle dir die Katzen vor. Und du wirst sehen, wie einzigartig sie sind. Das sind wirklich ganz besondere Tiere."

"Ich bin eigentlich wegen etwas anderem gekommen", Sophie nestelte am Reißverschluss ihrer Tasche herum, um den neuen Arbeitsvertrag hervorzuholen. Die Katzen im Zimmer verkrochen sich noch tiefer in ihre Verstecke, erschrocken vom Geräusch von Sophies Reißverschluss.

"Sophie, jetzt sieh dir das an. Die Katzen sind ja völlig verängstigt! Wenn sie hier einen Schaden abbekommen, sind sie praktisch wertlos und ich bekomme kein Geld dafür. Kann das nicht warten, was du mir zeigen wolltest?"

Sophie wollte bereits nachgeben, besann sich dann aber eines besseren. Schon immer musste Sophie zurückstecken, wenn es um diese blöden Katzen ging. Aber nicht dieses Mal. Nicht nachdem sie so hart für diesen Erfolg gearbeitet hatte. Sie richtete sich zu voller Größe auf und sagte lauter als beabsichtigt:"Nein, ich möchte dir wirklich etwas super Wichtiges zeigen, jetzt sof..." den Rest des Satzes konnte sie nicht beenden, da eine Katze sich vor Lauter Schreck tiefer in ihr Versteck hinter dem Wäschekorb flüchten wollte und dabei versehentlich das Bügelbrett anrempelte, das mit einem lauten poltern zu Boden fiel. Daraufhin preschten alle Katzen aus ihren Verstecken und versuchten verzweifelt zu fliehen.

Nun verließ auch Sophies Vater die Geduld, er schoss in die Höhe und polterte los:"Sophie raus jetzt! Es reicht mir, diese Katzen sind sau viel Geld wert und ich lasse es nicht zu, dass du diese Katzen so verstörst, dass ich sie nicht los werde!" Er hob den Arm und deutete auf die Zimmertür.

Das ließ sich Sophie nicht zweimal sagen. Sie war es schon gewohnt, dass die Katzen ihrem Vater sehr viel bedeuteten und er dadurch vergaß, wem er eigentlich seine Aufmerksamkeit schenken sollte. Aber dass er so wenig Interesse an ihrer Nachricht zeigte, das verletzte sie schon sehr.

Sie riss die Schlafzimmertür auf und stürzte ins Wohnzimmer. Ihr schossen Tränen der Wut in die Augen und ihre Sicht verschwamm. Vor lauter Katzen bemerkte sie nicht, dass die wertvolle Katze hinter dem Wäschekorb sich mit aus dem Schlafzimmer geschlichen hatte. Ohne Rücksicht darauf, ob sie einer Katze auf die Pfoten trat, bahnte sie sich weiter ihren Weg zur Küche durch. Auf dem Esstisch saßen drei Katzen, die sie mit neugierigen Augen anschauten. Sophie zischte durch ihre Zähne und verscheuchte die Katzen. Mit einem Ruck öffnete sie die Tür zum Vorzimmer, wo ihr kühle Luft entgegen schlug. Verdutzt hielt sie in ihrer Bewegung inne und erkannte erst viel zu spät, dass die Haustür sperrangelweit offen stand. Aus dem Augenwinkel erkannte sie gerade noch so, wie die wertvolle Katze zur Haustür entwischte. Im selben Augenblick kam ihr Vater angerannt, der ihr einen Stoß gab, damit er die Tür zum Vorzimmer sofort wieder verschließen konnte.

Mit funkelnden Augen blickte er Sophie an und knurrte:"Dir ist hoffentlich klar, was du da gerade angestellt hast." Mit diesen Worten verließ er sein Haus, um nach der Katze zu suchen.

Mit Tränen in den Augen blieb Sophie einen Moment wie versteinert stehen. Dann breitete sich der Schmerz in ihrer Brust aus. Wieder einmal hatte ihr Vater diesen blöden Katzen mehr Aufmerksamkeit geschenkt als ihr, seiner eigenen Tochter. Immer waren diese Viecher wichtiger als sie. Traurig und wütend zugleich, zog sich Sophie ihre Jacke über und machte sich auf den Weg zu ihrem Auto. Frustriert ließ sie sich auf den Sitz fallen. Nachdem sie den Motor gestartet hatte, drehte sie die Musik voll auf und legte den Rückwärtsgang ein.

Die laute Musik dröhnte in ihren Ohren und Sophie raste die Straße entlang. Plötzlich sah sie aus dem Augenwinkel einen goldenen Pelz mit dunkelbraunen Punkten. Sophie hatte gerade noch genug Zeit um zu erkennen, dass es die entwischte Katze ihres Vaters war, die gerade ohne zu gucken über die Straße rannte. Sophie war viel zu schnell, um noch rechtzeitig reagieren zu können und es kam zum Aufprall.

Zitternd brachte Sophie ihr Auto zum Stehen und stieg aus. Sie atmete tief durch und ging um das Fahrzeug herum. Das konnte die Katze nicht überlebt haben. Sie sah das Fellbündel auf dem Boden liegen, mit den schwarzen Spuren des Asphalts in ihrem goldenen Fell. Der Körper des Tieres war auf unnatürliche Art gekrümmt und Sophie ging davon aus, dass die Katze längst tot war. Doch plötzlich hob sich der Brustkorb der Katze und sie fing flach an zu atmen. Sophie beugte sich über sie und flüsterte:"Du bist ganz schön widerstandsfähig, du kleines Mistvieh." Kurz überlegte sie, ob sie der schwer verletzten Katze helfen sollte. Aber dann machte sich ein neues, unbekanntes Gefühl in Sophies Körper Platz. Das Gefühl von Rache und Macht. Sie hatte nun die Macht darüber, was mit diesem Tier passieren sollte. Sie könnte der Katze das Leben retten. Aber Sophie war so voll mit Hass, ihr ganzes Leben lang musste sie wegen dieser Katzen zurückstecken. Und jetzt hatte sie endlich die Gelegenheit, sich zu rächen. Dem Schmerz der letzten Jahre ein wenig Luft zu machen.

Ohne darüber nachzudenken und ohne zu wissen, was sie damit auslösen würde, stand Sophie auf und ließ die sterbende Katze hilflos zurück. Ohne sich nochmal umzudrehen, stieg sie in ihr Auto ein und fuhr davon.

Der Fluch der KhepriWo Geschichten leben. Entdecke jetzt