Sophie verschlug es die Sprache. Sie rutschte etwas näher an Toni heran. Die fremde Katze war riesig und von ihrem Thron aus Wäschekörben machte sie einen bedrohlichen Eindruck. Sie und Toni wären schutzlos ausgeliefert, sollten die fremden Katzen sie angreifen.
"Seid gegrüßt", fing Toni mit freundlicher Stimme an zu sprechen. "Keine Angst, wir wollen euch nichts tun. Mein Name ist Toni und das hier ist meine Begleiterin Sophie."
Die fremde Katze gab Laute von sich, die sich wie ein Lachen anhörten. Und die anderen Katzen im Zimmer stimmten mit ein. Sophie spürte, wie sich ihr Fell aufstellte, als die fremde Katze antwortete: "Als ob ihr uns etwas antun könntet. Schaut euch doch an, ihr seid nur zu zweit. Bevor ihr auch nur zwei Schritte machen könntet, hätten wir euch schon erledigt."
Sophie legte die Ohren an. Sie versuchte sich unauffällig im Zimmer umzusehen, ob es irgendeine Art Fluchtmöglichkeit gab. Aber sie musste feststellen, dass sie und Toni in der Falle saßen. Jetzt konnte sie nur noch darauf hoffen, dass Toni die richtigen Worte fand und dass die fremden Katzen sie nicht in Stücke zerreißen wollten.
"Das ist wohl wahr. Aber wie gesagt, wir sind nicht hier, um Ärger zu machen", wiederholte Toni.
"Weswegen seid ihr dann hier? Ihr kommt von der Straße, man riecht es. Was führt zwei Straßenkatzen in das Haus eines Menschen?"
"Wir sind auf der Suche nach einer Katze namens Freddie."
Der grau getigerte Kater musterte Toni mit skeptischem Blick. "Was wollt ihr von Freddie?"
Bingo! Sie waren also im richtigen Haus. Zumindest schien hier eine Katze zu wohnen, die Freddie hieß.
"Nun, wir würden ihn gerne etwas fragen."
Der große Kater lachte wieder und antwortete: "Ihr wollt ihn etwas fragen. Und was wäre das genau?"
Toni machte sich etwas größer und erwiderte: "Das würden wir gerne mit ihm selbst besprechen. Das ist, äh, vertraulich. Sag Freddie, dass Bo uns geschickt hat."
Die fremde Katze fletschte die Zähne und wollte gerade etwas erwidern, als hinter ein paar Kartons eine Stimme ertönte und sagte: "Bo schickt euch? Er lebt also noch?"
Überrascht sahen Sophie und Toni zu den sprechenden Kartons, als ein zweiter Kater hervortrat. Er war nicht ganz so groß wie der grau getigerte Kater. Sophie hatte schon lange nicht mehr eine so schöne Katze gesehen. Der Kater, der wohl Freddie hieß, war schildpattfarben. Jedoch musste man ganz genau hinsehen, um das Weiß in seinem Fell zu erkennen. Das braune und schwarze Fell verteilte sich gleichmäßig über seinen Körper. Die dunkelbraunen Augen blickten erstaunt, aber freundlich in Sophies und Tonis Richtung.
"Ja, Bo ist noch am Leben. Du bist also Freddie?", fragte Toni.
"Genau der bin ich. He Karlos, das ist schon ok. Sie kommen von Bo. Ich kenne Bo noch von meiner Zeit auf der Straße. Er ist ein feiner Kerl. Wenn Bo ihnen vertraut, vertraue ich ihnen auch", Freddie stellte sich zwischen den grau getigerten Kater namens Karlos und die beiden Fremden.
Karlos hielt kurz inne und überlegte, dann knurrte er: "Na schön, aber wir bleiben in der Nähe, falls du doch Hilfe brauchst!" Mit diesen Worten drehte sich Karlos um und hüpfte von seinem Wäschekorb und verschwand.
"Kommt ihr beiden. Wir können uns dort hinten hinsetzen und dann könnt ihr mir erzählen, was euch zu mir führt", Freddie deutete mit der Schwanzspitze auf einen Schrank, dessen Türen aus den Angeln gebrochen waren.
Obwohl Sophie immer noch beunruhigt war, durch das feindliche Auftreten von Karlos, hatte sie zu Freddie sofort Vertrauen gefasst. Nach einem kurzen Blickwechsel mit Toni folgten sie ihm. In einem der unteren Regalfächer des Schrankes waren Decken ausgebreitet, um das harte Holz etwas gemütlicher zu machen. Die drei Katzen ließen sich darauf nieder. Toni schilderte Freddie in kurzen Worten, wie es Bo ging und wie sie von ihm zu Freddie geschickt wurden.
"Am Anfang dachte ich, es seien einfach nur sehr realistische Träume", begann Sophie zu erzählen. "Aber dann erkannte ich die Träume im realen Leben wieder. Alles war genau so wie in meinen Träumen. Der Wind, die Farbe der Blätter, das Aussehen der Katzen und", Sophie stockte. "Und die Art und Weise, wie die Katzen zu Tode kamen." Sie beendete ihren Satz und sah traurig zu Boden.
Freddie schwieg eine Weile, bevor er ihr antwortete: "Ich glaube dir. Und es tut mir unheimlich leid, was du alles durchmachen musst. Das muss furchtbar sein, das Schicksal dieser Katzen vorherzusehen und nicht immer rechtzeitig vor Ort zu sein, um sie zu retten."
"Ja", antwortete Sophie mit leiser Stimme. "Das ist es. Bo meinte, du könntest uns möglicherweise weiterhelfen, wie ich diese Träume wieder loswerden kann?"
"Es tut mir Leid, ihr beiden", seufzte Freddie. "Aber ich fürchte, dass ich das nicht kann. Ich habe tatsächlich Geschichten darüber gehört. Geschichten, die kleinen Kätzchen erzählt werden, wenn sie Langeweile haben. Vor vielen, vielen tausenden von Jahren lebte angeblich eine Katze, die eben genau solche Träume gehabt haben soll, wie du sie gerade beschrieben hast. Aber ich weiß leider weder, ob an diesen Geschichten etwas dran sein könnte, noch, wie ich euch weiterhelfen kann."
Sophies Herz wurde schwer. Wieder eine Enttäuschung. Zuerst hatte sie gehofft, dass Bo ihr weiterhelfen könnte, dann Freddie. Doch beide Kater hatten keinen Anhaltspunkt für sie, wie sie weitermachen sollte.
Freddie bemerkte, wie enttäuscht Sophie war und versuchte sie aufzumuntern: "Es mag für dich im Moment vielleicht noch eine Art Bestrafung sein, aber ich bin mir sicher, dass dir diese Gabe nicht gegeben wurde, um dich zu bestrafen. Du kannst damit anderen Katzen das Leben retten. Nimm es als Geschenk an und versuche nicht dagegen anzukämpfen."
Sophie musste aufpassen, dass sie nicht hysterisch auflachte. Weder Freddie noch Toni kannten die ganze Wahrheit über sie. Wenn die Träume keine Bestrafung waren, dann war es ganz sicher die Verwandlung von einem Menschen in eine Katze.
"Folgt mir", riss Freddie sie aus ihren Gedanken. "Ich zeige euch, wie ihr wieder nach draußen kommt. Die alte Dame hat ihr Fenster im Badezimmer nie ganz geschlossen, ihr könntet beide hindurchpassen."
Sophie blickte traurig zu Boden und folgte Toni und Freddie. Sie verließen das Wohnzimmer unter den wachsamen Augen der anderen Katzen und wandten sich im Flur nach rechts. Plötzlich blieb Sophies Blick an einem Zeitungsartikel hängen. Die Zeitung lag platt gedrückt am Boden und hatte ihre besten Zeiten bereits hinter sich. Aber das abgedruckte Bild und die Überschrift ließen Sophie innehalten.
"Hier wohnt die älteste Katze Deutschlands"
verkündete die Überschrift. Sophie blieb stehen und schaute sich den Artikel genauer an.
"29 Jahre. Für uns Menschen beginnt in diesem Alter gerade erst das Leben. Es wird geheiratet, das Eigenheim tritt in den Vordergrund und es werden Familien gegründet. All das dürfte die älteste Katze Deutschlands, ihr Name ist Ömmes, nicht mehr interessieren. Sie macht sich im Katzencafé 'Cat Café' ein schönes Leben und genießt die Aufmerksamkeit der Besucher, die sich dort in Anwesenheit von Katzen einen Cappuccino gönnen."
Sophie konnte es sich nicht erklären, aber plötzlich wurde ihr klar, dass sie unbedingt zu dieser Katze gelangen musste. Schnell überflog sie den Rest des Artikels. Bei diesem Café handelte es sich um ein Café, das bedürftige Katzen aufnahm und ihnen ein Zuhause schenkte. Die Besucher konnten sich in den Räumlichkeiten ein Stück Kuchen und einen Kaffee bestellen und die Anwesenheit der Katzen genießen.
Sie musste unbedingt Toni davon erzählen. Sie gab die Hoffnung nicht auf, irgendwann wieder ein Mensch zu sein.
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Der Fluch der Khepri
FantasySophie wuchs unter keinen guten Bedingungen auf. Ihre Mutter war noch eine Schülerin, als sie Sophie direkt nach der Geburt vor der Haustür ihres Vaters absetzte und sich aus dem Staub machte. Ihr Vater war selbst fast noch ein Teenager. Er hatte di...