25. Kapitel

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„Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel." - Unbekannt

Es war bereits mitten in der Nacht und während meine Teamkameraden schon längst in der Welt der Träume weilten, wälzte ich mich seit Stunden von links nach rechts. Irgendwann gab ich die Suche nach Schlaf auf und setzte mich in dem dunklen Raum auf – naja zumindest fast dunklen Raum. In einem der Büros brannte noch ein schwaches Licht.

Mit leisen Schritten tapste ich durch den Schlafsaal zu seinem Büro. Matt sass an seinem Bürotisch und vor ihm waren einige Unterlagen ausgebreitet. Als er meinen Schatten bemerkte, winkte er mich hinein. Leise schloss ich die Tür hinter mir.

«Solltest du eigentlich nicht wo anders sein?», fragte Matt, während er sich von seinem Tisch abwandte und sich auf dem Stuhl zu mir drehte.

«Falls du den Schlafraum meinst, kann ich dich beruhigen. Bevor ich die Anderen aufwecke, wollte ich hier ein wenig Zeit totschlagen.»

«Du weisst, dass ich damit etwas anderes gemeint habe.» Natürlich wusste ich das und ich wusste, dass er das auch wusste. Es war Matt, er kennt die meisten Menschen besser als diese sich selber.

«Jay hatte mir ziemlich deutlich mitgeteilt, dass er mich nicht dahaben wollte – also bin ich nur seinem Wunsch entgegengekommen.», gab ich schliesslich bedrückt zu. Ich gab es nur ungern zu, aber seine Worte im Krankenhaus hatten mich ziemlich verletzt. Natürlich wusste ich, dass ich keine Ärztin war, aber Will war es und ich wollte den beiden in dieser schweren Situation doch nur unterstützen. Andererseits wollte ich in der aktuellen Situation nicht egoistisch wirken, schliesslich haben Jay und Will gerade erfahren, dass ihr Vater hirntot ist.

«Sophia, du weisst selber, dass Jay das nicht so gemeint hat. Die Situation hatte ihn überfordert und er wollte die Tatsache nicht wahrhaben. Sein Bruder und du seid bei eurer Arbeit öfters mit solchen Situationen konfrontiert. Für Jay ist das eine komplett neue Situation, die er erstmals verarbeiten muss.», Matt machte eine kurze Pause und trat einige Schritte auf mich zu, «Jay muss sich zuerst mit dieser Situation abfinden und sobald er eingesehen hat, dass die Einstellung der lebenserhaltenden Maschinen das Richtige ist, wird er jemanden brauchen, der an seiner Seite ist und für ihn da sein wird – und das solltest bestimmt du sein.»

Unglaublich. Matt fand zu jeder Tages- und Nachtzeit die passenden Worte für jede Situation und dabei übermittelt er einem niemals das Gefühl von Vorwürfen sondern versucht die Tatsache aus einem anderen Blickwinkel zu erklären.

«Ich bin ohne ein Wort aus dem Krankenhaus verschwunden! Ich kann jetzt wohl kaum einfach wieder dort auftauchen?!», innerlich war ich komplett aufgewühlt.

«Naja, jetzt gerade wäre wohl ein schlechter Zeitpunkt, denn wir haben gerade 02.45 Uhr und soweit ich informiert bin, sind die Besuchszeiten bestimmt schon vorbei. Geh morgen früh vorbei. Er wird froh sein, dich zu sehen – jeder würde das.».

Jeder würde das? Ich war mir nicht sicher, ob ich den letzten Teil richtig verstanden hatte, den Matt wurde zuletzt immer leiser.

Seine rechte Hand fand den Weg zu meiner Wange, welche er sanft berührte. Fast automatisch lehnte ich meinen Kopf gegen seine Hand und genoss die Wärme, die davon ausging. Wie konnte sich eine solche einfache Berührung gleichzeitig so gut und trotzdem so falsch anfühlen?

Was wäre, wenn Matt vor einigen Wochen das was zwischen uns war, nicht beendet hätte? Oder was wäre, wenn ich nicht gegangen wäre, als er vor meiner Haustüre stand? Wäre mehr aus uns geworden? Könnte da mehr zwischen uns sein?

Diese ganzen Fragen rasten durch meinen Kopf, während wir uns still gegenüberstanden – wie schon so oft. Ich nahm meinen Mut zusammen, machte einen Schritt auf Matt zu und schlang meine Arme fest um seinen Hals. «Danke Matt, dass du immer die richtigen Worte findest.». Die feste Erwiderung der Umarmung zeigte mir seine vollumfängliche Unterstützung.

«Und nun versuch noch ein paar Stunden zu schlafen.». Mit einem letzten Blick zu Matt, schlich ich wieder zurück in mein Bett, wo ich schnell in einem traumlosen Schlaf fiel.

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Direkt nach der Schicht wollte ich zu Jay ins Krankenhaus fahren. Gerade als ich die Wache verlassen wollte, hörte ich meinen Namen.

«Sophia, warte noch kurz!», es waren Stella und Sylvie, die mir schnell hinterhereilten. «Wir wollten fragen, ob du heute Abend auch mit ins Mollys kommen möchtest? Ich muss zwar arbeiten, aber es wäre trotzdem lustig.»

«Heute muss ich wohl leider passen. Ich fahre gleich ins Krankenhaus.», berichtete ich den beiden.

«Verstehen wir natürlich. Falls ihr euch noch umentscheiden solltet, könnt ihr noch immer vorbeischauen.», erwiderte Sylvie.

«Sag mal, Sophia...wo warst du den heute Nacht? Als ich wegen Mouch's Geschnarche aufgewacht war, war dein Bett leer und im Aufenthaltsraum hatte ich dich nicht gesehen.», fragte nun Stella sichtlich interessiert nach. Hinter uns hörte man plötzlich etwas herunterfallen. Als wir uns gleichzeitig umdrehten, sahen wir Matt bei der Zentrale, dem eine Akte heruntergefallene war – wie passend.

«I-ich..», stotterte ich, bis ich eine geeignete Antworte fand, «war kurz an der frischen Luft. Ich konnte nicht schlafen.». Die beiden Mädels schauten mich ziemlich verwundert an, stellten aber keine weiteren Fragen, weshalb ich mich schnell verabschiedete und in mein Auto stieg.

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Mit drei gutriechenden Kaffeebechern bewaffnet, stand ich nun im Flur des Krankenhauses. Verunsichert vor Jays Reaktion traute ich mich nicht, direkt ins Zimmer von seinem Vater zu gehen. Aus einem anderen Flur sah ich Will auf mich zukommen.

«Guten Morgen, Sophia. Es ist gut dich hier zu sehen.», wurde ich sogleich von dem rothaarigen Arzt begrüsst.

«Meinst du, es ist okay, dass ich hier bin? Das Gespräch letztens ging ja nicht besonders gut aus.»

«Was Jay gesagt hat, war nicht okay, aber er wird froh sein, dich hier zu sehen. Geh schon mal ins Zimmer, ich werde auch bald da sein.», damit liess mich Will im Flur stehen, zuvor schnappte er sich aber einen der Kaffeebechern.

Ich atmete nochmals einige male tief ein- und aus, bevor ich mich mit langsamen Schritten dem Zimmer näherte. Jay sass gebückt am Krankenbett seines Vaters und hielt seine Hand. Es sah so aus, als hätte er die ganze Nacht kein Auge zugetan.

«Hallo Jay. I-ich hoffe, es ist in Ordnung für dich, dass ich hier bin? Ich habe frischen Kaffee von dem Laden an der Ecke mitgebracht.", mit einem gewissen Abstand blieb ich bei der Tür stehen und wartete auf eine Reaktion. Würde er wütend sein? Oder wäre es wirklich froh mich hier zu sehen?

„Will...e-er sagt, dass das Krankenhaus ihn länger am Leben halten will, d-damit sein Tod nicht mit dem MED in Verbindung gebracht werden kann.", seine Stimme hörte sich stumpf an. „A-aber ich-ich kann es nicht glauben. I-ich sitze hier u-und seine Augen, die zucken zwischendurch! Und vorhin, d-da hat er meine Hand gedrückt!"

„Das wird in der Medizin als „Reflex" bezeichnet. Solche Reflexe können vorkommen, a-aber haben nicht mehr zu bedeuten für den Patienten.", antwortete ich ihm sanft.

„E-er muss aber aufwachen! Es...E-s darf nicht das Letzte gewesen sein, was ich...", seine Stimme wurde immer leiser.

„Du machst dir Vorwürfe, weil ihr euch zuletzt gestritten habt?", fragte ich sanft nach. Erst dann drehte Jay sich zu mir um. In seinen Augen konnte ich ein aufkommendes Glitzern sehen. „Du darfst dir keine Vorwürfe machen. So gern du auch möchtest, es kann die Situation nicht mehr ändern."

In der 3. Phase der Trauer versucht man das eigene Schicksal mit bestimmten Handlungen abwenden zu können. Betroffene arbeiten nach dem Motto, wenn sie etwas gutes Tun, wird ihnen auch etwas Gutes passieren.

Langsam stand Jay von seinem Stuhl auf und blieb unsicher vor mir stehen. „Ich wünschte, ich hätte etwas tun können.". Mit zwei kleinen Schritten überbrückte ich den Abstand zwischen uns und schloss ihn in eine feste Umarmung.

Erst als sich die Zimmertür erneut öffnet, lösen wir uns voneinander. Es war Will.

„I-ich bin soweit. Es ist Zeit.", dabei griff Jay nach meiner Hand. Überrascht wendete ich meinen Blick wieder zu Jay. Wovon sprach er?

„Lassen wir Dad gehen.", antwortete nun Will.

Dawurde es mir klar. Die beiden Brüder waren bereit, die lebenserhaltendenMaschinen ihres Vaters auszuschalten.

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