o6. Mache ich aber.

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Als Louis am nächsten Tag den Personalraum betrat, blieb er abrupt im Türrahmen stehen.
Er hatte das Gefühl, als sei er in etwas hineingeplatzt und wollte lieber nicht stören.

Harry und Liam standen in der hinteren Ecke des Raumes. Niall stand mit verschränkten Armen mit etwas Abstand daneben.
Louis verstand nicht, was Liam im leisen Ton zu Harry sagte, aber dieser sah aus wie ein verschrecktes Reh.
Die Schultern eingezogen, den Kopf leicht gesenkt, nickte der Lockenkopf hin und wieder und alles in Louis schrie, hinzugehen und Harry Schutz zu bieten.
Doch dann schlich sich tatsächlich ein Lächeln auf die Lippen des jungen Mannes und auch Liam lächelte. Louis entspannte sich.
Anschließend machten die beiden eine Geste, die Louis neugierig werden ließ.
Dr. Liam Payne legte seine rechte Hand auf sein Herz, klopfte zweimal und Harry wiederholte diese Geste. Niall nickte zufrieden, hob dann seinen Blick und entdeckte Louis, welcher noch immer im Türrahmen stand.
"Ich, äh... wollte nicht stören", entschuldigte er sich schnell. Harry und Liam hatten ihn unterdessen ebenfalls bemerkt.
"Schon okay", entschied Liam und sah noch einmal zu Harry, lächelte und verließ dann den Raum.
"Du bist zu spät", sagte Harry und riss Louis aus seiner Starre. "Die erste Visite sollte vor drei Minuten stattfinden."
"Na komm, Haz. Louis muss sich noch umziehen."

"Weißt du, was diese Geste zwischen Liam und Harry bedeutet?", wollte Louis dann in der Pause von Zayn wissen und wiederholte die Handbewegung und das Klopfen auf Höhe seines Herzens.
Der Pathologe lächelte, ehe er erklärte.
"Harry mag keinen Körperkontakt. Manchmal ist dieser aber dringend nötig. Diese Geste haben sich Niall und Harry als Kinder ausgedacht und gleicht für die beiden einer Umarmung. Und da Liam ja bekanntlich sehr viel Zeit mit Niall und somit auch mit Harry verbringt, hat er die Geste übernommen."
Eine schöne Geste, schoss es Louis durch den Kopf.
Harry schien hier allen wirklich viel zu bedeuten.
"Ich habe ihn gestern gesehen", gestand der junge Chirurg leise und beugte sich weiter zu Zayn.
"Nach Dienstschluss gab es eine Auseinandersetzung zwischen Liam und Harry."
Der Pathologe nickte. Hier im Krankenhaus funktionierte der Buschfunk ziemlich gut.
"Jedenfalls, als ich die Klinik verlassen habe, saß Harry weinend auf einer Bank hier in der Nähe. Er war ziemlich fertig."
Zayn seufzte leise.
"Ja. Harry ist zwar meistens wirklich taff, aber wenn ihm alles zu viel wird... er hasst laute Geräusche und mag es nicht, wenn nahestehende Personen einen Groll gegen ihn haben. Liam hat ihn gestern zweimal angeranzt und ist, wie ich gehört habe, ziemlich laut geworden. Das war zu viel für ihn."
Nachdenklich nickte Louis, als Harry und Niall die Kantine betraten.
Niall steuerte direkt zu ihrem Tisch zu, doch als Harry Zayn erkannte, marschierte er schnellen Schrittes einfach weiter.
Zayn hingegen lachte nur.
"Jeden Tag das Gleiche. Dabei schleppe ich hier nichts mit her. Ist ja nicht so, als wenn ich einen Kanister Leichenflüssigkeit dabei habe."
Louis musste schmunzeln, doch sein Blick glitt wieder zu Harry.
Wie schwer musste sein Leben bitte sein?

"Natürlich müssen Sie die Operation nicht machen. Das ist ihre freie Entscheidung", sagte Harry wenig später zu einer Patientin.
"Ich kann Ihnen aber sagen, dass es nicht besser wird. Ihr Fuß wird immer dicker werden und die Schmerzen werden auch immer schlimmer. Zudem verknöchert¹ alles. Spritzen kann man dann kaum noch geben, weil sie einfach nicht durchkommen. Und wenn Sie sich dann, in fünf Jahren dazu entscheiden, die Operation doch zu machen, ist es vermutlich zu spät und wir müssen den Fuß amputieren²."
Die Frau mittleren Alters sah den Arzt geschockt an.
"Amputieren?"
"Ja, was denken Sie denn? Wenn Ihr Fuß so sehr anschwillt, dass die Durchblutung gestört wird und das ganze umliegende Gewebe abstirbt, dann bleibt einem keine andere Wahl."
Die Frau schüttelte ihren Kopf.
"Aber das ist Ihre Entscheidung. Ich amputiere gerne. Also von mir aus können wir auch warten."
Louis eilte schnell zu Harry und der Patientin.
"Dr. Tomlinson", stellte er sich vor und sah Harry mit einem vorsichtigen Blick an.
"Ich kann Ihnen gerne in einem ruhigen Raum noch einmal alles erklären. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen auch eine Broschüre über die Steiflegung des Sprunggelenks geben."
Die Frau nickte einfach nur überfordert.
"Sehr gut. Gehen Sie doch einfach schon ins Zimmer 201. Ich komme gleich nach."
Kaum war die Dame außer Sichtweite, drehte sich Louis zu Harry um.
"Harry", seufzte Louis leise und sah seinen Kollegen tadelnd an.
"Du kannst ihr doch nicht sagen, dass du gerne amputierst."
"Mache ich aber."
Louis musste doch tatsächlich lachen.
"Das wollen die Patienten aber nicht hören. Das macht ihnen Angst."
Der Lockenkopf zuckte mit den Schultern.
"Das ist nicht mein Problem."
"Ich übernehme sie einfach, okay? Vielleicht kannst du dir unterdessen die Narbe von Miss Santos anschauen aus Zimmer 223.
Wieder zuckte Harry mit den Schultern und drehte sich dann einfach um.
Louis wollte gerade hinterhergehen, als er sah, dass sein Kollege das Zimmer 223 ansteuerte.

Das würde in Zukunft wirklich anstrengend werden.

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¹ Die Ossifikation (lat. os "Knochen", facere "machen") beschreibt eine Verknöcherung bzw. die Bildung von Knochen.

² Der Begriff Amputation beschreibt die Abtrennung eines Körperteils vom restlichen Körper.

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