15. Harry's Liste

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Als Harry am nächsten Tag endlich den Vormittag hinter sich hatte, ging er zügig auf Louis zu, der sich gerade einen Kaffee holte. „Wir sollten reden."
Louis drehte sich irritiert zu ihm um. „Gibt es ein Problem?"
Harry zuckte die Schultern und deutete auf die Tür, die aus der Notaufnahme führte. „Können wir dafür vielleicht rausgehen?"
Louis seufzte und schnappte sich seine Tasse. Eigentlich durfte er die nicht mit nach draußen nehmen, aber er entschloss sich, diese Regel zu ignorieren.
Harry allerdings räusperte sich neben ihm. „Du hast die Milch draußen vergessen."
Der Arzt presste die Lippen aufeinander, um sich einen Kommentar zu verkneifen, stellte den Behälter dann allerdings zurück in den Kühlschrank.
Dann folgte er Harry aus dem Gebäude und hielt die Tasse so, dass er sie nicht sehen konnte. Zumindest nicht so lange, bis sie draußen waren.

Louis fragte sich, worüber er wohl mit ihm reden wollte. Hatte er irgendetwas gesagt oder getan, das ihm nicht passte?
Umso überraschter war er, als Harry sich neben ihn auf eine Bank setzte und einen Zettel aus einer Kitteltasche zog. „Also", eröffnete er ihm, „Wir müssen über diesen Kongress sprechen."
Ja, das machte Sinn. Hätte er sich eigentlich auch denken können.
„Was ist das für ein Zettel?", fragte er und nippte an seinem Kaffee.
„Du hast deine Tasse mit nach draußen gebracht?"
Louis stöhnte entnervt auf. „Komm schon, was soll passieren?"
Harry sah ihn mit einem ärgerlichen Blick in den Augen an. „Was, wenn ein verwirrter Patient jemanden damit verletzt?"
„Deswegen stelle ich sie ja auch nicht ab."
Harry verdrehte die Augen, schien sich aber mit seiner Antwort zufriedenzugeben.
„Also, was ist das für ein Zettel?", hakte Louis noch einmal nach.
Der Arzt blickte auf das sorgfältig gefaltete Blatt Papier in seinen Händen.
„Das ist eine Liste", erklärte Harry. „Darauf stehen alle Dinge, die wir beachten müssen, wenn wir uns ein Zimmer teilen wollen."
Louis nahm den Zettel an sich und zog überrascht die Augenbrauen nach oben. Harry's kleine "Liste" umfasste eine ganze Seite - in Schriftgröße 10.
Er atmete hörbar aus und ging die ersten Punkte durch.
Schon beim ersten Stichpunkt sah er seinen Kollegen ungläubig an. „Vergiss es."
„Was?"
„Ich stehe nicht um fünf Uhr morgens auf", erklärte Louis und tippte sich an die Stirn.
„Ich bin noch nie später aufgestanden", zuckte Harry die Schultern. „Länger kann ich nicht schlafen."
Ein tiefes Seufzen drängte sich aus Louis' Brust. Das konnte doch alles nicht wahr sein. „Da steht, ich darf keinen Sex haben."
Da war es wieder. Das leidige Thema.
Harry nickte eifrig. „Ist das ein Problem?"
Erneut verdrehte Louis die Augen. „Nein. Ich frage mich nur gerade, ob du mir ernsthaft zutraust, irgendwen flachzulegen, während du daneben versuchst, zu schlafen."
Er selbst konnte sich ein Lachen beinahe nicht verkneifen, Harrys Gesichtsausdruck allerdings blieb todernst. „Kann ich doch nicht wissen. Das Gleiche gilt übrigens für Masturbation."
Louis legte den Kopf in die Hände und spürte, wie seine Wangen sich rötlich verfärbten. „Warum führe ich eigentlich schon wieder dieses Gespräch mit dir?"
„Weil du dir ein Zimmer mit mir teilen musst", antwortete Harry überflüssigerweise. „Und ich will deine ... Körperflüssigkeiten nicht in meiner Nähe haben."
Louis rieb sich die Augen. Man konnte sagen, was man wollte - aber jemanden wie Harry hatte er definitiv noch nie kennengelernt.
„Schon klar", gab er dann zurück. „Ich bleibe artig."
Als er sich dann doch ein Lachen nicht verkneifen konnte, warf ihm Harry einen scharfen Blick zu. „Ich meine das ernst."
„Ich auch", entgegnete Louis und lehnte sich zurück, bevor er einen weiteren Schluck aus seiner Tasse nahm. „Glaubst du wirklich, ich halte es keine drei Tage ohne Sex aus?"
„Woher soll ich deinen Durchlauf kennen?", erkundigte Harry sich, ohne die Miene zu verziehen.
Louis schnaubte empört auf. „Meinen Durchlauf?", wiederholte er fassungslos, „Was stellst du dir eigentlich vor, was ich die ganze Zeit lang treibe?"
Harry sah ihn verwundert an. „Du meintest doch, du hast Sex."
Louis hätte ihn am liebsten gegen die Wand geklatscht. „Ja, wenn es sich ergibt", entgegnete er, „Aber ich habe auch noch andere Interessen, weißt du."
„Perfekt", räumte Harry mit einem Lächeln ein und schien gar nicht zu bemerken, dass Louis ihn mit einem bösen Blick durchbohrte. „Dann können wir ja zum nächsten Punkt übergehen."
„Besser ist es", murmelte sein Kollege und massierte sich das Nasenbein. Das konnten ja lustige drei Tage werden.
Als er den nächsten Punkt auf der Liste sah, konnte er sich erst keinen Reim daraus machen. „Warum soll ich mir die Umgebung vorher auf Google Maps ansehen?"
„Man kann nie wissen, was passiert", erklärte Harry, „Und im Notfall ist es immer besser, sich auszukennen."
„Warum darf ich auf keine öffentlichen Toiletten gehen?"
„Weil wir uns im Zimmer eine Toilette teilen müssen, und ich keine Hinterlassenschaften von Fremden darauf haben möchte."
„Und wenn ich aber mal muss?"
„Dann musst du dich eben zusammenreißen", antwortete Harry. „Deine Blase kann immerhin bis zu 700 Milliliter aufnehmen."
„Klar", kam es frustriert zurück, „Das Problem dabei ist nur, dass ein normaler Mensch bereits ab einem Füllstand von 150 Millilitern pinkeln muss."
„Und komm bloß nicht auf die Idee, im Stehen zu pinkeln."
Louis fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. „Komm schon, Harry", stöhnte er. „Das kann doch nicht dein Ernst sein."
Wieder zuckte Harry die Schultern. Wie immer, wenn er kein Problem in der Situation sah. „Hast du eigentlich Flugangst?"
„Nein, wieso fragst du?"
„Gut, dann kannst du ja problemlos den Fenstersitz nehmen", flötete Harry und lehnte sich zufrieden zurück.
Louis nickte. „Klar. Hast du Flugangst?"
„Nein", antwortete Harry. „Aber ich will nicht so eingesperrt sein."
„Okay", gab Louis zur Antwort, als er sich langsam wieder beruhigte. „Das kriegen wir auf jeden Fall hin."
Dann las er sich die Liste weiter durch. „Magst du auch keine Teppichböden?"
Harry schüttelte den Kopf. „Das ist widerlich."
„Ich nehme mir für den Fall auch immer Hausschuhe mit", erzählte Louis, und tatsächlich wich Harry seinem Blick dieses Mal nicht aus.
Einen Moment lang faszinierte ihn das Grün, das ihn anblitzte. „Kann ich dich mal was fragen?"
Harry spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte, nickte dann aber zögerlich.
„Hat es einen bestimmten Grund, warum du so ein Problem mit ... Schmutz hast?", fragte Louis vorsichtig.
Harry dachte einen Moment lang nach, schüttelte dann allerdings den Kopf. „Niemand mag Schmutz."
Louis beließ es vorerst dabei und warf einen weiteren Blick auf die Liste. Er wollte nicht neugierig wirken oder ihn in eine unangenehme Situation bringen.
Also arbeiteten sie eine weitere halbe Stunde Harrys Liste durch, und Louis fragte sich hin und wieder, warum er nicht einfach ein Zimmer in einem anderen Hotel aus eigener Tasche bezahlte. Dann fiel ihm wieder ein, dass das vermutlich gar nicht so einfach war, wenn ein großer Kongress stattfand.
Laut der Liste musste er sich beim Betreten und Verlassen des Zimmers die Hände desinfizieren, seine Schmutzwäsche mit Handschuhen in eine Plastiktüte packen und durfte auf gar keinen Fall vor Harry duschen.
Er konnte es nicht leiden, wenn die Dusche schon nass war.
Als Louis den Zettel schließlich wieder zusammenfaltete, seufzte er tief auf. Das würde ja spaßig werden.
„Das kriegen wir schon hin", sagte er trotzdem, als er Harry seine Liste zurückgab.
Dieser lächelte ihn breit an. „Danke. Mit den anderen würde ich mir kein Zimmer teilen."

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