o7. Du interessierst mich einfach

293 74 27
                                    

Harry hatte gerade seine Pause beendet, als Liam abgehetzt zu ihm kam und tief durchatmete. „Kannst du mir einen Gefallen tun?"
Der junge Arzt blickte ihm misstrauisch entgegen. „Kommt ganz darauf an."
„Die Reanimation im Schockraum war nicht erfolgreich", erklärte Liam, noch immer außer Atem. „Hier ist die Hölle los und Zayn hat keine Zeit, ihn abzuholen. Könntest du ihn bitte zu ihm bringen?"
Gerade als Harry widersprechen wollte, hob er die Hände. „Ich weiß, du hasst den Keller", kam er ihm mit verständnisvoller Stimme zuvor. „Aber es geht nicht anders."
Harry spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. „Ich gehe da nicht runter."
Louis ging eben an den beiden Männern vorbei, als er ihre Diskussion mitbekam.
„Kannst du nicht eine Schwester schicken? Ich meine, das ist schließlich ihre Aufgabe."
„Nein", antwortete Liam. „Ich brauche sie in den Schockräumen und in der OP-Vorbereitung. Ich habe keine Zeit, das zu diskutieren."
Louis blieb neben den beiden stehen und lächelte Harry aufbauend an. „Tut mir leid, wenn ich mich kurz einmische", unterbrach er das Gespräch. „Lass uns zusammen gehen. Dann musst du nicht allein runtergehen."
Liam zog beide Augenbrauen nach oben. Er wusste genau, dass er es sich im Moment eigentlich nicht leisten konnte, zwei Ärzte in die Leichenhalle zu schicken. Andererseits war ihm genauso klar, dass er es sich noch weniger leisten konnte, Harry allein gehen zu lassen und noch mehr Zeit zu verlieren. Also nickte er ihnen zu. „Macht das. Aber beeilt euch."
Dann machte er sich schnellen Schrittes auf den Weg zurück zu seinem nächsten Patienten.

Harry schluckte und sah ihm fassungslos hinterher. „Der muss sich mal beruhigen."
Louis sparte sich einen Kommentar, als er Harry sanft bei den Schultern nahm und ihn in Richtung des fraglichen Patienten drückte.
Hastig schüttelte dieser seine Hände ab. „Hör doch auf, mich ständig anzufassen."
Louis verdrehte die Augen und fragte sich im nächsten Moment, warum er sich eigentlich auf diese Situation eingelassen hatte.
Man hatte ihn bereits auf eine Trage gelegt und abgedeckt - Harry musste ihn also nur noch nach unten zu Zayn bringen und konnte dann wieder nach oben gehen und mit seiner Arbeit fortfahren.
Einfacher gesagt als getan.
Als er vor der Trage stand und Louis seine Hände bereits an den Griff gelegt hatte, wich Harry einen Schritt zurück und hob angeekelt die Hände an.
„Was ist los?"
Harry holte zwei blaue Einmalhandschuhe aus seiner Kitteltasche und zog sie über seine Hände, bevor er die Trage anfasste.
Trotz jeder Vorsichtsmaßnahme war er unbeschreiblich angeekelt, als sie den Leichnahm in Richtung des Personalaufzuges schoben.
Er traute sich kaum zu atmen.
Nicht nur, weil er mit einem Toten durch das Krankenhaus laufen, sondern ihn auch noch in den Keller bringen musste.

Als die beiden Ärzte im Aufzug ankamen, blendete ihn das helle Licht. Er blinzelte und bemerkte, dass Louis ihn neugierig musterte.
„Unter dem Licht siehst du aus wie ein Serienmörder", verkündete Harry und sah, wie der Gesichtsausdruck sich zu einem empörten Schnauben wandelte.
„Ein Serienmörder also", wiederholte Louis und verschränkte die Arme vor der Brust. „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ziemlich unverschämt bist?"
Harry zuckte die Schultern. „Ja. Aber es stimmt. Das Licht kommt von oben, wirft dunkle Schatten unter deine Augen und lässt dich aussehen, als würdest du richtig irre grinsen."
Louis verkniff sich einen Witz über die ganzen Leichen, die er im Keller versteckt hatte, als ihm wieder einfiel, warum er eigentlich hier in diesem Aufzug stand.
„Interessant, was du alles bemerkst", sagte er stattdessen.
„Danke", grinste Harry und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Gerade wollte er dem noch etwas hinzufügen, als sie unten ankamen und sich die Tür des Aufzuges langsam öffnete.

Louis schob die Trage nach draußen auf den Flur und sah zu Harry, der zögerlich stehen blieb. „Komm jetzt", forderte er ihn auf. „Du hast doch gerade Witze über Serienmörder gemacht. Da wird der Keller schon nicht mehr so furchteinflößend sein."
Harry hätte am liebsten alle Knöpfe gleichzeitig gedrückt, nur um sicher wieder nach oben zu kommen. Er hätte sich auch auf die Entbindungsstation zu den ganzen schreienden Neugeborenen oder gebärenden Frauen gesetzt, um von hier verschwinden zu können.
Schließlich allerdings trat er aus dem Aufzug und blickte auf den nur spärlich beleuchteten Kellergang.
Immerhin fehlten hier unten die Fenster.
Louis zog die Augenbrauen nach oben. „Du musst mir schon helfen. Alleine fahre ich ihn gegen die Wand."
Harry zog die Augenbrauen zusammen. „Hast du sie noch alle?"
Louis verdrehte die Augen. „Doch nicht absichtlich, du Genie. Mir fehlt die Kraft in den Armen, um alleine gerade den Flur entlang zu fahren."
Harry zuckte unbehelligt die Schultern. „Dann solltest du vielleicht ein paar Reanimationen mehr machen."
Louis biss sich auf die Zunge und beobachtete schließlich, wie Harry sich ans andere Ende der Liege stellte und die Hände mit angewidertem Gesichtsausdruck an den Griff legte.
Er konnte sehen, dass er sich wahnsinnig unwohl fühlte. Seine Atmung beschleunigte, er zitterte und verlor plötzlich kein einziges Wort mehr.
Louis wurde skeptisch, als sein Blick immer starrer und die Schritte immer langsamer wurden.
„Harry?", hakte er vorsichtig nach. „Alles okay?"
Er bekam keine Antwort.
Seufzend überlegte Louis, ob er kurz anhalten sollte, befürchtete dann allerdings, Harry versehentlich zu überfahren. Sein Kollege schien sich nicht mehr wirklich bewusst darüber zu sein, was um ihn herum passierte - also würde er voraussichtlich auch nicht registrieren, dass Louis anhalten wollte.
„Es ist nur ein Keller, Harry", versuchte er es noch einmal. „Dir kann nichts passieren."
Harry schluckte und hielt an der Tür zur Pathologie an, wo er mehrere Male unsanft auf die Klingel drückte.
Zayn öffnete von innen und war sichtlich überrascht darüber, wen er da vor sich stehen hatte.
„Harry", lächelte er und zog sich den Mundschutz nach unten. „Schön, dass du mich auch mal besuchst."
Augenrollend ließ er den Wagen los. „Ja, schon klar", gab er zurück. „Hier bitte, deine Post mit einem schönen Gruß von Liam. Hat wohl gerade im Schockraum während einer Rea ins Gras gebissen."
Louis zog die Augenbrauen nach oben und tauschte einen Blick mit Zayn, von dem er noch nicht wusste, ob er amüsiert oder entsetzt gewesen war.
„Viel Spaß", sagte Harry abschließend und drehte sich wortlos um, um schnellstmöglich wieder nach oben zu laufen.
Auffordernd sah er Louis an. „Kommst du endlich? Ich muss oben noch einen entzündeten Blinddarm operieren."
„Bis später", schmunzelte Zayn und winkte seinem besten Freund zu, bevor dieser mit schnellen Schritten Harry hinterhereilte.
Dieser war schon auf halbem Weg zurück. Louis fragte sich, wie er das so schnell geschafft hatte. „Jetzt renn doch nicht so."
„Trödel du doch nicht so", entgegnete Harry, ohne sich umzudrehen.
Louis hatte Mühe, mit seinem Kollegen mitzuhalten. „Du bist echt nicht einfach."

Als sie am Aufzug ankamen, drückte Harry schnellstmöglich auf den Knopf, um ihn zu rufen. „Danke, dass du mitgekommen bist."
Verwundert drehte Louis den Kopf in seine Richtung. „Gern geschehen."
Harry wippte nervös mit den Beinen, als der Aufzug nach einer halben Minute noch immer nicht angekommen war. „Hast du eigentlich Kinder?"
Erneut irritiert von dem plötzlichen Themenwechsel, schüttelte Louis den Kopf. „Nein", antwortete er. „Das hat sich bis jetzt einfach nicht so ergeben."
Harry grinste. „Du meinst, du hast noch keine Frau gefunden."
Louis atmete hörbar aus. „Vielleicht will ich auch einfach keine Frau und keine Kinder."
Als der Aufzug endlich seine Türen öffnete, schickte Louis ein Stoßgebet in den Himmel, dass Harry nicht weiter auf dem Thema herumreiten würde.
Sein Grinsen verriet ihm allerdings, dass er das sehr wohl vorhatte.
„Weil du keine Zeit hast oder weil du wirklich nicht willst?"
„Beides."
„Hast du was gegen Frauen?"
Louis schüttelte fassungslos den Kopf. „Nein, spinnst du?"
„Warum willst du dann keine haben?"
„Weiß ich nicht", antwortete Louis und hätte Harry am liebsten im Keller eingesperrt. „Wie gesagt, das hat sich bisher einfach nicht ergeben."
Harry kicherte.
„Also stehst du auf Männer", schlussfolgerte er.
„Warum interessiert dich das überhaupt?", wollte Louis angenervt wissen, als der Aufzug auf der richtigen Etage im Erdgeschoss ankam.
Dieses Mal war er derjenige, der zuerst aus dem beengten Raum flüchtete.
„Keine Ahnung, du interessierst mich einfach", gab Harry zurück und zog sich die Handschuhe von den Händen, ehe er sie in Desinfektionsmittel tränkte.
Louis verdrehte die Augen. „Dann find's doch einfach raus", entgegnete er und ging mit schnellen Schritten an seinem Kollegen vorbei, bevor der noch mehr Fragen stellen konnte.

I don't think soWo Geschichten leben. Entdecke jetzt