Kapitel 31 ~ Entführt

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Als ich mich hinaus traute, saßen alle wieder. Auch Nathaniel war zurück auf seinem Platz - seine angespannte Mimik wieder zur Schau gestellt.
Die Stimmung jedoch war bestens und keiner fragte mich, was ich so lange auf der Toilette gemacht hatte.
Mir war es schon so peinlich genug.

Der restliche Abend verlief reibungslos. Und wirklich, die beiden Streithähne ignorierten sich und schienen eine Art Waffenstillstand zu haben. Vielleicht hatte ja auch Matthew ein Machtwort gesprochen. Er war immer der Vermittler zwischen den Zweien.
Aber Judith war sowieso sehr beschäftigt und hatte mit Carl Vieles zu bereden. Er setzte sich sogar neben sie.
Und Nathaniel war mit Matths Eltern in ein Gespräch vertieft. Ich hatte bereits bei der Begrüßung mitbekommen, dass Moni und Klaus ihn wie einen dritten Sohn behandelten. Sie gingen sehr liebevoll mit ihm um.
Und er war zwar trotzdem ein kalter Brocken Eis, aber man merkte ihm dennoch an, dass er sich Mühe gab und versuchte herzlicher zu wirken. Das selbstgefällige Lächeln kam nicht ein einziges Mal in ihrer Nähe zum Vorschein.
Ich hatte wahnsinnig viel Interesse daran, ihn zu beobachten und dabei nicht erwischt zu werden.

Es faszinierte mich, wie nett er sein konnte, wenn er nur wollte.
Ein bisschen von dieser Nettigkeit konnte er sich ruhig für mich aufheben.

Dann war eine plötzliche Aufbruchsstimmung zu spüren. 
Zuerst verabschiedeten wir Klaus und Moni, danach Nils und Judith.
Letztere hatte noch ein paar gute Sprüche auf Lager in Richtung Nathaniel.
Ich sagte ihr, dass sie auf jeden Fall mal zu unserem Mädelsabend kommen musste  - Sina war sofort begeistert und auch Judith fand den Vorschlag klasse.
Vielleicht konnte ich so noch ein wenig mehr über Mister Geheimnisvoll erfahren, wenn sie über ihn ablästerte.
Sie flüsterte mir während der Umarmung noch ins Ohr: „Lass dich von ihm nicht unterbuttern. Er mag einer der Besten im Ring sein, aber menschlich gesehen, ist er ein Versager." Sie löste sich von mir und schenkte mir ein Lächeln. „Pass schön auf dich auf", sagte sie etwas lauter.
Ich nickte nur, weil ich zum ersten Mal nicht ihre Meinung teilte. Es nervte langsam, dass mich verschiedene Leute vor ihm warnten.
Vielleicht war das Treffen mit Judith doch nicht so eine gute Idee, wenn sie immer nur versuchte das Negative in Nathaniel zu sehen.

Nils und Edith stiegen ein und fuhren los.
Gedankenversunken sah ich den Rücklichtern hinterher, als der Wagen von der Einfahrt auf die Straße abbog und dann nicht mehr zu sehen war.

Schön reden wollte ich nichts. Nathaniel war definitiv ein Vollidiot und ein Großkotz.
Aber er war persé kein schlechter Mensch.
Natürlich war es witzig, wie er zähneknirschend alles hinnahm, was sie ihm an den Kopf knallte. Und ich war zu neugierig, um nicht mehr Details über ihn zu erfahren.
Aber dieses permanente Bemuttern..
Als würde ich nicht selbst auf mich aufpassen können und nur schlechte Entscheidungen treffen würde.

Ohne Grund war nicht Matthew mit ihm befreundet. Nathaniel konnte einfach kein schlechter Mensch sein. Er hatte einfach nur wahnsinnig schlechte Manieren, den meisten Menschen gegenüber.
Gerade nach der tröstenden Umarmung heute Morgen kaufte ich ihm die Bösewicht-Nummer nicht mehr ab.

Daran glaubte ich.
Was es mit den Frauen auf sich hatte, wusste ich nicht. Und ich wollte gerade nicht darüber nachdenken und irgendwelche Mutmaßungen anstellen.
Es gab sicher eine Erklärung dafür, die nicht ihn als alleinig Bösen darstellte.

Dann kam mir ein anderer Gedanke.
Ich sah auch das Gute in einem Menschen und meine Intuition sagte mir, dass Nathaniel nicht die ethischen Regeln befolgte, er aber eine gute Seele besaß und niemanden ohne Grund absichtlich schadete - genauso wie Carl.
Und wie meine Mutter.
Es konnte auch sein, dass ich das sehr blauäugig sah und mich jemand eines Besseren belehrte.

„Willst du dort Wurzeln schlagen?" hörte ich Matthew rufen. „Komm rein. Es regnet bestimmt bald wieder", verkündete Sina noch. Verwirrt drehte ich mich um. Die Vier waren schon wieder zum Haus zurück gelaufen und ich stand immer noch am Gartenzaun. Ich hatte nicht mitbekommen, dass sie weggelaufen waren. Schnell ging ich ebenfalls zurück.

Nathaniel - deep waterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt