»Kannst du es dir nicht noch einmal überlegen?«
Fast schon flehend ruhen die dunklen Augenpaare meiner besten Freundin Rebecca auf mir. Wir sitzen im ‚Four', unserer Lieblingsbar an den Kölner Ringen. Schon zu Beginn unseres Studiums hat es uns immer wieder hier her verschlagen und verbrachten hier so manchen Abend. Da ist es nur logisch, dass ich auch meinen letzten Abend in Köln hier verbringen.
»Ach, Becca«, bringe ich seufzend heraus und versetze den Inhalt meines Weinglases, ein französischer Rosé, in Schwingung. Ich beobachte, wie der Wein in meinem Glas Kreise zieht, und halte inne. In den letzten Tagen, ach was sage ich, in den letzten Wochen hat Rebecca immer wieder versucht, mich zu bearbeiten, davon zu überzeugen, dass ich bleibe. Aber ich habe keine andere Wahl. Ich muss gehen, um die Bedingung zu erfüllen, mit der ich mir mein Medizinstudium finanzieren konnte. Ich werde als Landärztin arbeiten, irgendwo in einem kleinen beschaulichen Ort bei Sonthofen im Allgäu. Aussuchen kann ich mir den Ort nicht. Man wird zugewiesen und so sind meine Würfel gefallen.
»Lass doch gut sein, du weißt, dass es nicht anders geht« steht mir Vanessa, genannt Nessi bei und stärkt mir den Rücken. Ich nicke ihr dankend zu, hebe mein Glas an meine Lippen und benetze meine Lippen mit dem Wein in meinem Glas.
»Doch geht es, wenn sie das Geld annehmen würde und die 15.000 Euro einfach zurück zahlt«, lässt Rebecca nicht locker und manchmal verfluche ich sie für ihre Hartnäckigkeit.
»Ohne dieses Geld hätte ich das Studium gar nicht erst antreten können und nun ist es Zeit, dass ich meinen Teil der Bedienung einlöse. Es sind nur 10 Jahre!« Versuche ich, Rebecca zu beruhigen, doch die Traurigkeit ist in ihren dunklen rehartigen Augen deutlich abzulesen. Das Ende einer Ära hatte sie es genannt und irgendwie hat sie Recht. Elf Jahre waren wie im Flug vergangen und dieses Studium hat uns enger zusammen geschweißt. Wir gingen durch dick und dünn und nun startet jeder seinen eigenen Weg, in die unterschiedlichen Welten zurück, aus der wir kamen. Rebecca ist die Tochter eines angesehenen Herzspezialisten, der eine eigene Praxis in Köln besitzt und diverse Nationalmannschaften und somit auch Promis im Sportbereich betreut. Es liegt auf der Hand, dass Becca in der Praxis einsteigt, immerhin ist es die Welt, in die sie hinein geboren wurde. Während sie also ihren Facharzt in Kardiologie ablegte, schloss ich meinen in Allgemeinmedizin ab. Mehr als nur einmal hat sie mir angeboten, dass sie mir das Geld gibt, um mich, wie sie es nannte, frei zu kaufen, von der Verpflichtung als Landärztin zu arbeiten. Mein Stolz und meine Sturheit hindern mich bisher jedes Mal daran, das Geld anzunehmen. Ich möchte es selbst schaffen, aus eigener Kraft, ohne Hilfe von außen. Vielleicht klingt das alles etwas nach falschem Stolz, aber mir wurde im Leben noch nie etwas geschenkt und genau wie alles andere möchte ich mir das ebenso verdienen und erarbeiten und dazu gehörte nun einmal, dass ich meinen Teil der Abmachung erfülle.
»Aber schon in einem Jahr kann viel passieren!« Lässt Rebecca noch immer nicht locker und ich nippe ein weiteres Mal an meinem Glas. Wie Recht zu hast, Becca. Wie Recht du hast, denke ich und unweigerlich gehen meine Gedanken auf Reisen, lassen alles Revue passieren, was in den letzten Jahren geschehen ist. Wenn jemand weiß, wie viel sich innerhalb eines Jahres ändern kann, dann ich. Als ich acht war, feierten wir ein wundervolles Weihnachtsfest. Meine Mutter und ich backten Kekse. Zimtsterne, deren Duft das ganze Haus erfüllte, während draußen die ersten Schneeflocken in der klaren Winterluft tanzten. Mein Bruder Moritz saß am Tisch und malte. Er ist fünf Jahre älter als ich und kam mit Trisomie 21 auf diese schöne Welt. Dabei ist ein Chromosom zu viel, das einundzwanzigste, um genau zu sein, aber genau das macht Moritz, der von uns allen nur Mo genannt wird, zu dem wohl liebenswertesten Menschen, den ich kenne. Er ist sehr sensibel und liebesbedürftig. Er hasst Streitigkeiten und man merkt schnell, dass ihm ein solcher völlig aus der Bahn wirft. Meine Mutter war es, die ihn förderte und forderte. Immer mit dem Ziel ihn selbstständiger und unabhängiger zu machen. Natürlich benötigt er hier und da Hilfe und wird nie ein selbstbestimmtes Leben führen können, aber durch ihn habe ich begonnen die Welt mit anderen Augen zu sehen. Er zeigt mir noch heute Dinge, für die er sich begeistern kann. Einfache Dinge, für die uns in dieser schnelllebigen Zeit voller Pflichten und Aufgaben oft der Blick fehlt. Ihn begeistert eine Schnecke die langsam durch unseren Garten kriecht, oder das Eichhörnchen das sich am Vogelfutter im Vogelhäuschen bedient. Und dann sind da noch die Sterne. Er kennt sie alle. Jedes Sternbild und seit unsere Mutter fort ist, beschäftigt er sich noch mehr damit. Er taucht in eine andere Welt ab und manchmal ist es schwer, ihn dort heraus zu bekommen. Der Weihnachtsabend kam und zu dem Duft von Zimtsternen gesellten sich all die anderen Gerüche, die nach Weihnachten rochen. Der Gänsebraten um Ofen, die Sauce auf dem Herd, das Rotkraut mit den Apfelstückchen, die Bratäpfel, die wir als Nachtisch aßen. Damals ahnte niemand von uns, dass es unser letztes Weihnachtsfest sein würde.
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Stadt Land Liebe
Roman d'amourUm ihr Medizinstudium zu finanzieren, hat sich Sophie als Landärztin verpflichtet. Als es an der Zeit, ihren Teil des Vertrages zu erfüllen, verschlägt es sie von Köln in das kleine verschlafene Städtchen Niederelgbach im Allgäu. Inmitten dieser tra...