Ausbruch der Gefühle

19 2 0
                                    

Julian

Die erste Halbzeit hatte sich wie eine Ewigkeit hingezogen. Jeder Augenblick, den ich auf der Tribüne saß, fühlte sich an, als würde er mich erdrücken. Ich hatte gehofft, dass es einfacher wäre. Dass ich stark genug wäre, um einfach dazusitzen und das Spiel zu sehen, ohne dass die Vergangenheit mich überwältigte. Aber sobald ich Kai auf dem Spielfeld gesehen hatte, war all das Selbstvertrauen, das ich mühsam aufgebaut hatte, in sich zusammengefallen.

Er hatte sich kaum verändert, und doch schien er mir so fremd. Er bewegte sich auf dem Platz mit derselben Eleganz, die ich so gut kannte, aber es war, als wäre eine unsichtbare Mauer zwischen uns gezogen worden, die ich nicht überwinden konnte. Ich spürte, wie sich mein Magen verkrampfte, als seine Blicke immer wieder zu mir wanderten. Es war schwer, das zu ertragen. Die Erinnerung an das, was wir hatten, und das, was wir verloren hatten, war einfach zu viel.

Es war lächerlich, dass ich geglaubt hatte, ich könnte das durchstehen. Dass ich es schaffen könnte, ihn zu sehen, ohne dass die Wunden, die er in mir hinterlassen hatte, wieder aufgerissen wurden. Doch jetzt, in diesem Moment, saß ich da und kämpfte verzweifelt gegen die Tränen an, die in meinen Augen brannten.

Als die Halbzeit näher rückte, spürte ich, wie die Beklemmung in meiner Brust unerträglich wurde. Ich konnte nicht länger hier sitzen. Ich musste weg, bevor ich die Kontrolle verlor. Also stand ich auf, zog die Kapuze tiefer ins Gesicht und verließ die Tribüne, ohne mich noch einmal umzudrehen.

Ich fand mich schließlich in einem abgelegenen Raum in der Dortmunder Kabine wieder. Es war still hier, abgeschottet von dem Trubel draußen, und doch hörte ich das dumpfe Brummen der Arena, das wie ein ferner, unaufhörlicher Puls durch die Wände drang. Ich ließ mich auf eine Bank sinken, zog die Kapuze vom Kopf und verbarg mein Gesicht in den Händen.

Die Tränen kamen, bevor ich sie aufhalten konnte. Sie liefen heiß über meine Wangen, und ich konnte nichts dagegen tun. Es war, als hätte sich all die Anspannung, die ich in den letzten Monaten in mir getragen hatte, endlich einen Weg nach draußen gebahnt. Alles brach über mir zusammen – der Schmerz über meine Verletzung, der Verlust des Fußballs, das Gefühl, alleine zu sein, und vor allem der Kummer über Kai.

Er hatte mich verlassen. Nicht nur auf dem Spielfeld, sondern auch in meinem Leben. Nach dem Kuss, nach allem, was zwischen uns passiert war, hatte er einfach den Abstand gewählt. Er war fortgegangen, und ich hatte versucht, damit klarzukommen. Aber jetzt, da ich ihn wieder gesehen hatte, war es, als wäre jede Wunde, die ich mühselig versucht hatte zu heilen, wieder aufgerissen worden.

Mein ganzer Körper zitterte unter den intensiven Gefühlen, die mich überwältigten. Es war nicht nur die Trauer. Es war Wut, Enttäuschung, Hoffnungslosigkeit – alles auf einmal, in einem Wirbel, der mich völlig überforderte. Ich fühlte mich schwach, kraftlos, wie ein Schatten meines früheren Selbst.

Meine Gedanken drehten sich im Kreis, und ich hatte keine Antworten auf die Fragen, die in meinem Kopf herumspukten. Warum war es so schwer? Warum hatte Kai mich so behandelt? Und warum konnte ich ihn nicht einfach loslassen?

Ich versuchte, mich zu beruhigen, die Tränen zu stoppen, aber sie schienen unaufhaltsam zu fließen. Jeder Atemzug fiel mir schwerer, und der Kloß in meinem Hals wurde immer größer. Ich wollte diesen Schmerz nicht fühlen, aber es gab keinen Ausweg. Ich war gefangen in meinen eigenen Gefühlen, in meiner eigenen Trauer.

Plötzlich hörte ich Schritte. Leise, zögerlich, aber unüberhörbar. Jemand kam näher. Ich hielt den Atem an, hoffte, dass es vielleicht nur einer der Betreuer war, der mich in Ruhe lassen würde. Doch als die Schritte näherkamen, erkannte ich das vertraute Gefühl in der Luft, bevor ich überhaupt aufsah.

Es war Kai.

Er stand in der Tür, sein Blick auf mich gerichtet, und ich sah, wie sich sein Gesicht veränderte, als er die Tränen auf meinen Wangen bemerkte. Er sah... zerbrochen aus, als ob der Anblick von mir ihm genauso weh tat wie mir.

Ich wollte aufstehen, wollte ihm sagen, dass er gehen sollte, dass ich nicht mit ihm reden wollte. Aber ich konnte nicht. Mein Körper war wie gelähmt vor Schmerz und Erschöpfung, und alles, was ich tun konnte, war, dazusitzen und ihn anzustarren.

„Julian..." Seine Stimme war leise, vorsichtig, als hätte er Angst, dass jedes Wort die Situation noch schlimmer machen könnte. Er trat ein paar Schritte näher, blieb dann unschlüssig stehen, als ob er nicht wusste, ob er wirklich weitergehen sollte.

„Was willst du, Kai?" Meine Stimme klang rau, unterdrückt von den Tränen, die ich immer noch nicht ganz zurückhalten konnte. Ich wollte stark klingen, wollte ihm zeigen, dass ich ihn nicht brauchte, dass ich alleine mit allem klarkam. Aber es war eine Lüge, und das wussten wir beide.

Er blieb stehen, direkt vor mir, und für einen Moment war es, als könnte er nicht die richtigen Worte finden. Dann setzte er sich neben mich auf die Bank, den Blick auf den Boden gerichtet. Er war so nah, dass ich seine Wärme spüren konnte, und das machte es nur noch schwerer, meine Fassade aufrechtzuerhalten.

„Ich... ich weiß, dass du mich nicht sehen willst", begann er schließlich, seine Stimme war brüchig, unsicher. „Aber ich musste zu dir kommen, als ich dich gesehen habe. Du... du siehst nicht gut aus, Julian."

Ich schnaubte bitter. „Danke für die Erkenntnis." Ich wischte mir grob die Tränen vom Gesicht, auch wenn ich wusste, dass es sinnlos war. „Das ist aber nicht dein Problem, oder?"

Kai schwieg für einen Moment, und als er schließlich sprach, klang seine Stimme leise, fast gebrochen. „Ich... ich weiß, dass ich vieles falsch gemacht habe. Dass ich dich verletzt habe. Aber es ist nicht so einfach, Julian. Ich... ich wusste nicht, was ich tun sollte."

„Du wusstest nicht, was du tun solltest?" Ich lachte trocken, obwohl nichts daran wirklich witzig war. „Du hast mich einfach weggestoßen, Kai. Du hast mir gesagt, dass du Abstand brauchst. Und jetzt kommst du hierher und tust so, als würdest du dich um mich kümmern?"

Er sah mich an, und in seinen Augen lag Schmerz, der mich unerwartet traf. „Ich habe versucht, es richtig zu machen. Ich wollte dich nicht verletzen. Aber ich hatte Angst, Julian. Angst, dass ich... dass wir beide..." Er brach ab, als ob die Worte zu schwer für ihn waren.

„Angst vor was?" fragte ich leise, obwohl ich die Antwort wahrscheinlich schon wusste.

„Angst, dass ich mehr für dich empfinde, als ich sollte." Die Worte waren kaum mehr als ein Flüstern, aber sie hingen schwer zwischen uns.

Ich sah ihn an, sah die Ehrlichkeit in seinen Augen, und für einen Moment wusste ich nicht, was ich fühlen sollte. Die Wut, die Enttäuschung – all das war noch da, aber unter all dem war da auch diese Sehnsucht. Die Sehnsucht nach dem, was wir einmal hatten. Nach der Nähe, die uns so vertraut gewesen war, bevor alles kompliziert wurde.

„Und jetzt?" fragte ich schließlich, meine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

Kai senkte den Blick, seine Schultern sanken herab, als ob er selbst nicht wusste, was er darauf antworten sollte. „Ich weiß es nicht", sagte er leise. „Aber ich kann dich nicht so sehen, Julian. Es tut mir weh, dich so zu sehen."

Die Stille, die darauf folgte, war schwer und voller unausgesprochener Dinge. Und dann, ohne Vorwarnung, brachen die letzten Mauern in mir zusammen. Die Tränen, die ich so lange zurückgehalten hatte, flossen wieder, diesmal heftiger, unaufhaltsamer.

Ich konnte nicht mehr stark sein. Nicht vor ihm. Nicht, wenn er hier saß und all das aussprach, was wir beide so lange versucht hatten zu ignorieren.

Kai legte eine Hand auf meine Schulter, und es war diese einfache Geste, die mich endgültig zerbrechen ließ. Ich drehte mich zu ihm um, und bevor ich wusste, was ich tat, legte ich meinen Kopf auf seine Schulter und ließ einfach alles raus.

Er sagte nichts. Er hielt mich einfach fest, seine Hand ruhte sanft auf meinem Rücken, während ich in seinen Armen zusammenbrach.

Es war kein Kuss, kein Geständnis. Aber es war echt. Ehrlich. Und in diesem Moment, als wir beide da saßen, wusste ich, dass wir noch lange nicht über den Berg waren. Aber vielleicht, nur vielleicht, war dies der Anfang von etwas Neuem.

Etwas, das noch nicht vorbei war.

The last Match- Jule & KaiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt