Missverständnisse und Spannungen

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India hatte sich darauf eingestellt, Jamal vielleicht wieder in der Bibliothek zu treffen, aber die nächsten Tage vergingen ohne ein weiteres unerwartetes Wiedersehen. Sie fühlte sich ein wenig seltsam deswegen. Es war nicht so, als hätte sie darauf gewartet, ihm zu begegnen, doch seine Abwesenheit fiel ihr auf. Vielleicht hatte sie sich doch mehr an ihre kurzen Gespräche gewöhnt, als sie zugeben wollte.

Es war Freitagabend, und India hatte beschlossen, der Einladung einer anderen Studienfreundin zu folgen. Eine kleine Runde, keine große Party wie die letzte, aber dennoch genug, um sich von den endlosen Seminararbeiten abzulenken. Sie hatte nicht vorgehabt, lange zu bleiben. Doch als sie die Wohnung ihrer Freundin betrat, spürte sie sofort die Spannung in der Luft.

India sah sich um und bemerkte, dass die meisten Anwesenden sich gut kannten. Es war eine vertraute Gruppe, und sie fühlte sich ein wenig deplatziert. Trotzdem nahm sie sich ein Glas Wein und setzte sich in eine Ecke des Wohnzimmers. Die Gespräche um sie herum waren laut, aber India konzentrierte sich darauf, die Gesichter zu erkennen.

Und da war er.

Jamal stand auf der anderen Seite des Raumes, umgeben von einigen Leuten, die offensichtlich versuchten, seine Aufmerksamkeit zu erregen. India hätte ihn fast nicht bemerkt, doch irgendetwas in seinem Blick – als er sie erblickte – ließ ihren Atem kurz stocken. Es war, als wäre für einen Moment alles um sie herum verstummt.

Doch dann wandte sie schnell den Blick ab. Es war seltsam, ihn hier zu sehen. Sie hatte sich so sehr daran gewöhnt, ihn nur in ruhigen Momenten, in der stillen Bibliothek, zu treffen. Hier, umgeben von lauten Menschen und auf einer Party, wirkte er irgendwie anders.

Er war eindeutig der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Menschen schienen ständig auf ihn zuzugehen, als ob er eine Art Magnet wäre. Es störte India mehr, als sie wollte. Natürlich, dachte sie, das ist die Welt, in der er lebt. Immer im Rampenlicht, immer von Leuten umgeben, die etwas von ihm wollten. Sie nahm einen Schluck von ihrem Wein und versuchte, sich auf das Gespräch ihrer Freundin zu konzentrieren.

Doch es dauerte nicht lange, bis sie ihn näher kommen spürte. Sie hob den Blick, und da stand er plötzlich vor ihr.

„Hey," sagte er lässig, als wäre es das Normalste der Welt, sie hier zu sehen.

„Hey," erwiderte sie, bemüht, ihre Überraschung zu verbergen. „Hast du hier viele Freunde?"

„Ein paar", antwortete er und ließ sich neben sie auf die Couch sinken. „Und du?"

„Auch ein paar." Sie zuckte mit den Schultern. „Aber es ist nicht so wirklich mein Ding, um ehrlich zu sein."

„Du bist also doch nicht die Party-Maus?" fragte er mit einem leichten Grinsen, und India konnte nicht anders, als zurückzulächeln.

„Ich denke, du hast das bereits geahnt," erwiderte sie.

„Das habe ich." Jamal hielt einen Moment inne, und sein Blick wanderte zu der Gruppe, die sie vorhin beobachtet hatte. „Es ist manchmal schwer, hier nicht aufzufallen."

India hob die Augenbrauen. „Weil du Jamal bist? Der berühmte Fußballspieler?" Es klang schärfer, als sie es gemeint hatte.

Sein Lächeln verschwand, und sie bemerkte die Veränderung in seiner Haltung. „Ist das ein Problem?"

India spürte sofort, dass sie ihn verletzt hatte, und ein Hauch von Reue durchzog sie. Sie wusste nicht genau, warum sie das gesagt hatte. Vielleicht, weil es ihr nicht gefiel, dass er hier so anders wirkte. In der Bibliothek war er ruhig und reflektiert gewesen, hier jedoch – schien er jemand anderes zu sein.

„Es ist kein Problem," sagte sie schließlich, um die Spannung zu entschärfen. „Es ist nur... schwierig, dich zu verstehen, wenn du in so verschiedenen Welten lebst."

„In verschiedenen Welten?" Er klang verwirrt.

India seufzte. „Du weißt schon, was ich meine. In der Bibliothek bist du jemand anderes. Hier wirkst du wie..." Sie stoppte, unsicher, ob sie den Satz beenden sollte.

„Wie jemand, den du nicht magst?" Jamal schaute sie ernst an, und India spürte, dass sie ihn missverstanden hatte. Doch bevor sie antworten konnte, wurde er von einer Gruppe von Leuten unterbrochen, die ihn in ein Gespräch verwickelten. Er stand auf, warf India noch einen letzten, unergründlichen Blick zu und ließ sie alleine zurück.

India fühlte sich plötzlich unwohl. Es war nicht ihre Absicht gewesen, ihn zu beleidigen, aber irgendwie hatten ihre Worte das wohl doch getan. Sie spürte die Missverständnisse, die sich zwischen ihnen aufbauten, ohne dass sie wirklich erklären konnte, warum. Jamal war nicht wie die anderen, und doch schien er sich manchmal genauso zu verhalten. Es verwirrte sie.

Eine halbe Stunde später war India auf dem Weg nach Hause. Die Party war nichts für sie gewesen, und die unangenehme Begegnung mit Jamal hatte sie nur noch mehr in ihrem Entschluss bestärkt, die Nacht frühzeitig zu beenden. Doch während sie durch die leeren Straßen ging, konnte sie nicht aufhören, an ihn zu denken.

Warum hatte sie das gesagt? Warum war sie so scharf gewesen, so distanziert? Vielleicht war es eine Art Selbstschutz. Sie wollte nicht in diese Welt hineingezogen werden, eine Welt voller Glamour, Bekanntschaften und Druck. Jamal mochte interessant sein, aber er lebte in einer Realität, die so weit von ihrer entfernt war, dass sie nicht wusste, ob sie das wirklich näher an ihn heranlassen sollte.

Und doch – sie konnte ihn nicht ganz loslassen. Jedes Mal, wenn sie ihn traf, war da diese unausgesprochene Verbindung, die sie nicht ignorieren konnte.

Unbekannte WegeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt