Das langsame Vertrauen

85 2 0
                                    


Die Tage nach ihrem Treffen im Café verliefen für India in einer merkwürdigen Mischung aus Routine und Nachdenklichkeit. Einerseits versuchte sie, sich auf ihre Seminararbeit und den Alltag zu konzentrieren, andererseits ertappte sie sich immer wieder dabei, an Jamal zu denken. Er hatte sich nicht wieder bei ihr gemeldet, und sie war sich nicht sicher, ob sie froh darüber oder enttäuscht war. Wahrscheinlich beides.

Es war Samstagmorgen, und India saß in der Bibliothek, um ihre Gedanken zu ordnen und an ihrer Arbeit zu schreiben. Der vertraute Raum, die leise Geräuschkulisse von umblätternden Seiten und das Klicken von Tastaturen beruhigten sie. Trotzdem konnte sie sich nicht ganz auf den Text vor ihr konzentrieren. Jamal war immer noch in ihren Gedanken.

In den letzten Wochen hatte er sie überrascht – nicht nur mit seiner Offenheit, sondern auch mit der Art, wie er sie behandelte. Er hatte nie versucht, sie zu beeindrucken oder sie in seine Welt zu ziehen. Stattdessen hatte er sich bemüht, ihr zu zeigen, dass er mehr war als der Fußballer, den alle kannten. Aber konnte sie ihm wirklich vertrauen?

India wusste, dass Vertrauen etwas war, das bei ihr nur schwer zu erlangen war. Ihre Vergangenheit hatte sie gelehrt, vorsichtig zu sein – Menschen ließen einen oft im Stich, auch wenn sie es nicht wollten. Sie hatte Freundschaften verloren, Beziehungen endeten, weil sie zu sehr versuchte, sich zu schützen. War sie dabei, dieselben Fehler zu wiederholen?

Als sie tief in ihre Gedanken versunken war, spürte sie plötzlich eine Bewegung neben sich. Sie hob den Blick, und zu ihrer Überraschung stand Jamal vor ihr. Er lächelte leicht, aber sie konnte sehen, dass er unsicher war.

„Hey," sagte er leise, als ob er sie nicht stören wollte. „Ich hoffe, ich unterbreche dich nicht."

India war einen Moment sprachlos, bevor sie sich schnell wieder fing. „Nein, gar nicht. Setz dich."

Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben sie. Die Bibliothek war nicht voll, aber der Tisch, an dem sie saß, bot genug Platz für beide. India spürte, wie ihr Herz ein wenig schneller schlug, doch sie versuchte, ruhig zu bleiben. Sie war überrascht, dass er hier war – und noch mehr, dass sie sich darüber freute.

„Ich war in der Nähe und dachte, ich schaue vorbei," erklärte Jamal und legte ein Buch auf den Tisch. „Ich wollte dich nicht stören, aber ich wollte auch nicht einfach warten, bis wir uns zufällig wiedersehen."

India lächelte leicht. Es war typisch für ihn, so direkt zu sein. Er machte keine großen Worte oder umständlichen Gesten, sondern kam einfach vorbei, um zu sehen, wie es ihr ging. Es war eine Geste, die sie beeindruckte, auch wenn sie es nicht sofort zeigen wollte.

„Das ist nett von dir," sagte sie und legte ihren Stift zur Seite. „Wie geht es dir?"

„Gut," antwortete er, doch India konnte erkennen, dass mehr hinter dieser Antwort steckte. „Es ist immer viel los, aber ich versuche, mich zu entspannen, wenn ich kann."

India nickte, ohne ihn zu drängen. Sie hatte gelernt, dass Jamal manchmal Zeit brauchte, um sich zu öffnen. Und das war in Ordnung für sie. Es war ihr ohnehin lieber, wenn Dinge sich langsam entwickelten.

Sie saßen eine Weile schweigend da, beide mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Doch es war kein unangenehmes Schweigen. Im Gegenteil, es fühlte sich fast natürlich an – als ob sie nicht die ganze Zeit reden müssten, um sich wohlzufühlen.

„Ich habe über unser letztes Gespräch nachgedacht", sagte Jamal plötzlich und brach die Stille.

India hob den Kopf und sah ihn an. „Worüber genau?"

„Über das, was du gesagt hast – dass du nicht in meiner Welt leben willst. Und ich wollte dir nur sagen, dass ich das respektiere. Ich will dich nicht dazu bringen, etwas zu tun, was du nicht willst."

India war überrascht, dass er das Thema noch einmal aufgriff, doch sie spürte sofort, dass er es ernst meinte. „Ich weiß. Und ich schätze das wirklich, Jamal. Es ist nicht so, dass ich dir nicht vertrauen will. Es ist nur... schwer."

Jamal nickte langsam. „Ich verstehe. Und ich will nicht, dass du dich unter Druck gesetzt fühlst. Aber ich möchte, dass du weißt, dass ich hier bin. Ich will das hier – was auch immer ‚das' ist – nicht überstürzen, aber ich möchte es auch nicht einfach ignorieren."

India sah ihn an und fühlte sich plötzlich verletzlich. Es war selten, dass jemand so offen mit ihr sprach, ohne etwas von ihr zu verlangen. Jamal schien wirklich darauf bedacht zu sein, ihre Grenzen zu respektieren, und das machte es ihr schwer, weiterhin distanziert zu bleiben.

„Es ist nicht, dass ich dich nicht mag", begann sie vorsichtig. „Es ist nur... ich habe Angst, dass wir aus verschiedenen Welten kommen und dass das früher oder später zu Problemen führen wird."

Jamal lehnte sich zurück und sah sie nachdenklich an. „Vielleicht. Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht können wir unsere eigenen Regeln machen, ohne uns von diesen Welten beeinflussen zu lassen."

India wusste nicht genau, was sie darauf antworten sollte. Es klang so einfach, wenn er es sagte, aber sie wusste, dass die Realität oft komplizierter war. Und doch... ein Teil von ihr wollte glauben, dass es möglich war. Dass sie vielleicht doch eine Chance hatten, trotz der Unterschiede.

„Ich will nur ehrlich mit dir sein", sagte Jamal schließlich, und seine Stimme war leise, aber ernst. „Ich weiß, dass das alles neu für dich ist. Und für mich ist es das auch. Aber ich will es versuchen."

India spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Er wollte es versuchen. Und auch wenn sie immer noch unsicher war, ob sie bereit war, ihm zu vertrauen, konnte sie nicht leugnen, dass seine Worte sie berührten.

„Vielleicht sollten wir es einfach langsam angehen", sagte sie schließlich. „Schritt für Schritt."

Jamal lächelte und nickte. „Schritt für Schritt klingt gut."

Sie saßen noch eine Weile zusammen, redeten über belanglose Dinge und genossen die Ruhe der Bibliothek. India fühlte, wie sich eine Art Vertrauen zwischen ihnen aufbaute – langsam, aber stetig. Sie wusste, dass es noch viele Hürden zu überwinden gab, aber für den Moment fühlte sie sich bereit, zumindest den ersten Schritt zu machen.

Unbekannte WegeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt